
Neuland in Sicht! Zwar ist der rheinische Weltbürger Max Ernst (1891-1976) bereits vor über vier Jahrzehnten in Paris gestorben. Doch erst jetzt erscheint erstmals eine „umfassende“ Zusammenstellung seiner Schriften. Zeitlebens und bis heute wurde und wird er als bildender Künstler gewürdigt. War da sonst noch was? Die Antwort gibt Büchner-Preisträger Marcel Beyer im Nachwort: „Max Ernst also, der Schriftsteller, ist in Deutschland gänzlich unbekannt.“
Anfänge als bissiger Kunstkritiker
Die Chance, diesen Umstand zu ändern, ist nun gegeben. Herausgeberin Gabriele Wix ist seit langem darum bemüht, der Dichtung und Publizistik von Max Ernst mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Jetzt legt sie im Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König in Köln einen sorgfältig edierten Band vor, der weit über die in den „Ecritures“ von 1970 versammelten Texte hinausgeht. So werden auch Beiträge berücksichtigt, die Max Ernst auf Französisch oder Englisch verfasst hat und die nun „erstmals vollständig“ in Neuübersetzungen der Lyrikerinnen Dagmara Kraus und Uljana Wolf (die in diesem Jahr die „Poetica“ in Köln kuratiert hat) vorliegen.
Schon mit den frühesten Veröffentlichungen beginnt das Lesevergnügen. Denn in seinen Theaterkritiken (gerne mit scharfem Blick aufs Bühnenbild) und in seinen Kunstkritiken erweist sich Max Ernst als frisch aufspielender Rezensent. Für den Bonner „Volksmund“ schreibt er im April 1913 über das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Kunstmuseum der Stadt: „Das beste Bild im Obernier-Museum war bis vor etwa einem Jahr die Aussicht von der oberen Glasveranda auf das andere Rheinufer und das Siebengebirge. Seitdem man die durch eine Zwiebelform mit goldener Spitze sorgsam verdeckt hat, ist überhaupt kein bestes Bild mehr da, nicht mal ein besseres.“
„Wahrheitsgewebe und Lügengewebe“
Max Ernst schont niemanden. Nicht die „Herdenkünstler“, die das, „was andere in ehrlichem Kampf durchgesetzt haben, aus Bequemlichkeit übernehmen“. Nicht die Kritiker-Kollegen, die sich als „Kunstrichter“ aufspielen oder sich „in rührender Übereinstimmung mit dem Vorwort im Katalog“ aufs Abschreiben verstehen. Nicht Museums-Verantwortliche, denen er bei der Auswahl der Bilder so beiläufig wie witzig Klüngel unterstellt. Auch nicht schlecht der Satz: „Echt deutsch sein heißt mit der Postkutsche fahren, wenn die andern im Auto sitzen.“

Ein literarisches Kunstwerk besonderer Art ist die nahezu lebenslange Beschäftigung mit seinen biographischen Notizen. Was Goethe „Dichtung und Wahrheit“ nennt, kommt bei Max Ernst als „Wahrheitgewebe und Lügengewebe“ daher. Ein Höhepunkt ist ein langes Interview, das er 1960 mit sich selbst für einen Katalog der Kölner Galerie Der Spiegel geführt hat: „Wie sieht der Tageslauf eines Malers aus? – „Als erstes bohrt er am Morgen ein Loch in die himmlische Rinde, die zum Nichts führt. Dann köpft er eine Tanne und verfehlt seine Laufbahn …“
Marcel Beyer über das Narbengewebe
Allerdings wäre es „ein Fehler“, meint Marcel Beyer, „vom freundlich offenen, unbekümmerten Ton“ zu schließen, „das Leben habe seinem Verfasser ‚nichts anhaben‘ können.“ Vielmehr sei es so: „Der Text ist das Narbengewebe, das die Wunde sichtbar verschließt.“ Wunden, die geschlagen wurden in der Kindheit (beim frühen Tod der Schwester), in der Schulzeit („allein der Klang des Wortes Hausaufgaben erfüllte mich immer mit Schrecken und Abscheu“), beim Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg („Blackout“), während der mehrfachen Internierung im besetzten Frankreich und schließlich auf der heiklen Flucht in die USA.
Im Autobiographischen finden sich auch Anmerkungen zu Köln, seinem zeitweiligen Wohnsitz. Die geografische, politische und klimatische Lage der Stadt, schreibt er 1942 in New York, begünstige die Entstehung produktiver Widersprüche: „Hier kreuzen sich die wichtigsten kulturellen Strömungen Europas: frühe mediterrane Einflüsse, westlicher Rationalismus, östliche Neigung zu Okkultismus, nördliche Mythologie, der kategorische Imperativ Preußens, die Ideale der französischen Revolution usw.“ In seinem Werk, sagt er, lasse sich der fortwährende Widerstreit dieser gegensätzlichen Tendenzen ablesen.
„tunke den finger ins tintenmeer“
Wiederum ein eigenes Reich tut sich in der Lyrik und Prosa auf. Dort glaubt man sogar ein Schreibmotto zu finden: „tunke den finger ins tintenmeer und verachte / des straßengelichters getuschel“. Es ist ein reizvolles Bestreben, den Versen auf den Grund gehen zu wollen, auch wenn dies im Zeichen von Dada und Surrealismus nicht selten ein bodenloses Unterfangen ist. Im Collageroman „La Femme 100 Tetes“ (100 Köpfe, keine Köpfe) von 1962 lesen wir: „Wisset dass / seit menschengedenken, die Femme 100 Tetes / niemals beziehungen zum / fantom der wiederbevölkerung gehabt hat. / Sie wird sie nie haben: sie wird sich eher in / morgentau einmachen lassen / und sich von erfrorenen veilchen ernähren.“
Vieles mehr kommt hinzu. Beiträge zu Katalogen und Auskünfte zur eigenen Kunst: „was die zeitungen mir vorwerfen, ist unwahr. Ich habe noch niemals bauchdeckenreflexe zu erhöhung der lichtwirkung meiner bilder verwendet. Ich beschränke mich lediglich auf rinozerisierte rülpspinzetten“ (1920). Weiter das gemeinsam mit Johannes Theodor Baargeld verfasste „Typoskrip-Manifest“ und ein „Erstes unvergessliches Gespräch mit einer Chimäre“, deren Abbildung im Buch eine besondere Herausforderung war, weil die Zeilen brechen oder kreisen. Nicht zuletzt werden Max Ernsts Übersetzungen ins Deutsche, aber auch ins Französische gewürdigt – etwa von Christian Morgensterns „Galgenliedern“ mit „Le grand Laloula“. Dass hier sowohl das Original als auch die Übersetzung abgedruckt sind, ist famos. Diese Zweisprachigkeit konnte bei den nichtdeutschen Texten von Max Ernst, die für diese Ausgabe ins Deutsche übersetzt worden sind, nicht realisiert werden. Denn das hätte den 600-Seiten-Wälzer ins Überdimensionale torpediert.
Michel Butor fordert „Revanche des Wortes“
Mit Nachdruck lenkt Herausgeberin Gabriele Wix die Konzentration auf die Literatur. Daher bietet der Band keine Gemälde, Collagen, Grafiken oder Skulpturen von Max Ernst – nicht zu den eigenen Werken, auch nicht zu Kooperationen und schon gar nicht zu Büchern von Kafka, Beckett und vielen anderen, die er illustriert hat. Das mag man bedauern, da Text und Bild oft gemeinsam veröffentlich worden sind. Doch Gabriele Wix weist darauf hin, dass trotz aller Intermedialität die Kunstwerke – die Dichtung wie die Illustration – auch autonom präsentiert worden sind. Und die Herausgeberin beruft sich bei ihrer Entscheidung auf den Schriftsteller Michel Butor, der eine „Revanche des Wortes“ gefordert hat, die auf die Dominanz der bildkünstlerischen Rezeption Max Ernsts folgen sollte. Nach dem pädagogischen Motto: Schauen ist gut, aber jetzt lest auch mal!
Was der Band „Max Ernst – Die Schriften“ bietet, ist Literatur pur – und das so umfassend wie noch nie. Ein Schatz wird gehoben. Dabei handelt es sich noch nicht um die historisch-kritische Ausgabe. Zudem handelt es sich um eine vorbildlich aufbereitete, stets auf Erstausgaben und Erstdrucke zurückgreifende und von den Grafikern Silke Fahnert und Uwe Koch sehenswert gestaltete Edition. Vor allem aber ist dies ein funkelndes Max-Ernst-Brevier.
Martin Oehlen
Gabriele Wix (Hrsg.): „Max Ernst – Die Schriften“, Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, mit einem Nachwort von Marcel Beyer und Übersetzungen von Dagmara Kraus und Uljana Wolf, 636 Seiten, 48 Euro.
