Das Waisenkind des Königs: „Sein Sohn“ von Charles Lewinsky ist ein Roman auf historischem Fundament

Landschaft in Graubünden. Möglicherweise ist Louis hier vorbeigewandert, als er sich auf die Suche nach seinen Eltern machte. Foto: Bücheratlas

Nach dem Schlusspunkt des Romans gibt es noch einen Hinweis zum historischen Hintergrund: „Von dem Sohn, den der Herzog von Orléans mit der Köchin Marianne Banzori zeugte, ist nur bekannt, dass er im Dezember 1794 zur Welt kam und in einem Waisenhaus in Mailand abgegeben wurde. Alles andere ist Erfindung.“

Kostgeld für 18 Jahre im Voraus

Dass der Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky in der Kunst der „Erfindung“ ein wahrer Meister ist, steht seit langem fest. In lebhafter Erinnerung ist der zuletzt erschienene Roman „Der Halbbart“ (2020), mit dem er für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert war: Ein Feuerwerk an Geschichten und Geschichtchen. „Sein Sohn“ kommt nicht ganz so konfettireich daher, bietet aber gleichwohl einen saftigen Plot.

Wie es auf der letzten Seite anklingt, beginnt die Geschichte in einem Waisenhaus, im sogenannten Martinitt, das noch heute in Mailand existiert, wenn auch mit erweitertem Betreuungsprogramm. Dorthin wurde im Dezember 1794 das Baby Louis Chabos verbracht. Das Kostgeld war bei der Übergabe für 18 Jahre im Voraus bezahlt worden.

Hunger ist sein täglich Brot

Louis ist ein schmächtiger Junge, der von seinen Altersgenossen gehänselt und gequält wird. Als er 12 Jahre alt ist, tritt er in den Dienst eines reichen Herrn, auf dessen Erbe das Waisenhaus erpicht ist. „Was kannst du gut?“, fragte der Marchese. „Nichts“, sagte Louis Chabos. „Das ist schon mal nützlich“, sagte der Marchese. „Auf ein leeres Blatt lässt sich gut schreiben.“ So bringt er ihm allerlei bei. Zum einen sind es Manieren. Zum anderen ist es Selbstbewusstsein, die Überzeugung, dass man für sich und seine Sache einstehen müsse. Auch wer kein Fechtmeister ist, muss das Duell wagen, wenn es unausweichlich ist.

Was Louis Chabos beim Marchese gelernt hat, wendet er in seinem Leben an. Zunächst wird er Soldat: „Die Armee war seine einzige Chance für ein neues Leben.“ Mit Napoleons Armee zieht er 1812 nach Russland und kehrt heim mit einer zerschundenen rechten Hand. Die Zeiten sind hart. Hunger ist sein täglich Brot. Immerhin findet er eines Tages das Ende einer Spur, die ihn zu seinen Eltern führen könnte.

Elternsuche in Graubünden

Auf seiner Suche gelangt er nach Reichenau in Graubünden. Die Mutter, erfährt er dort, sei die Köchin Marianne Banzori gewesen. Und Chabos habe einer der Lehrer vor Ort geheißen. Doch mehr wisse wohl nur der ehemalige Schulleiter Aloys Jost. Den macht er in Zizers ausfindig. Den Kontakt zur Mutter, so sagt es Jost, könne er herstellen – wenngleich er von einem Besuch abrate. Was den Vater angehe, hindere ihn ein Schwur: „Ich habe die Antwort und darf sie dir nicht geben.“

Das geht eine Weile so hin und her. Währenddessen wird Louis ein angesehener Bürger der Gemeinde. Er heiratet Seraina, bekommt mit seiner Frau die Tochter Mia und zieht mit ihr den Stiefsohn Laurin auf, den die Eheleute in den Armen einer Toten gefunden haben. Und er hat Erfolg als Weinhändler.

Reise an den Hof in Paris

Dann aber erreicht ihn die heiße Nachricht, aufgespürt von Tochter Mia in einer „alten Zeitung“ von 1830. Frankreichs „Bürgerkönig“ Louis-Philippe (1773-1850) sei, als er noch nicht auf dem Thron saß, unter verschiedenen Namen auf der Flucht vor den Revolutionswirren gewesen. Auch einmal als Französischlehrer in Reichenau unter dem Namen Chabos. Genau – so soll doch der Name des Vaters gelautet haben.

„Sein Sohn“ setzt nun die glückliche Existenz, die er sich aufgebaut hat, für die Gewissheit über seine Herkunft aufs Spiel: Er macht sich auf die Reise nach Paris. Dort wütet gerade die Cholera (und man fragt sich bang, ob nun jeder zweite Roman der Pandemie-Ära von einer Seuche heimgesucht werden wird). Wie Louis es anstellt, Kontakt zum französischen Hof aufzunehmen, was zumal aus seiner Hoffnung wird, den Vater zu treffen – das ist die Spannung, die niemandem an dieser Stelle genommen werden soll. 

Niederstürzende Satzkaskaden

Charles Lewinsky würde mit einem Auszug aus diesem Roman beim Klagenfurter Bachmannwettbewerb kaum einen Preis gewinnen können. Zu geradlinig wird hier erzählt, zu wenig mit der Form gespielt. Dennoch ist dies ein attraktiver Roman. Mit viel Tempo geht es voran. Dafür sorgen zum einen die 106 gleich kurzen, nämlich in der Regel nur drei Seiten umfassenden Kapitel, und dafür sorgen zudem die knappen, stakkatoartig niederstürzenden Satzkaskaden. Farbig wird das einfache Leben im 18. Jahrhundert ausgestellt. Humor ist auch zu finden.

Reizvoll sind nicht zuletzt die historischen Fäden, die in die Erzählung eingewoben sind. Aber auch ohne einschlägige Geschichtskenntnisse ist das Vergnügen garantiert. Ohne beispielsweise zu wissen, dass unter den historisch nachweisbaren Attentätern, die es auf Louis-Philippe abgesehen hatten, ein Schütze mit dem Vornamen Louis gewesen ist. Oder ohne das Wissen um Aloys Jost, der nicht nur den adligen Flüchtling versteckt hat, sondern auch politisch aktiv gewesen ist. Nicht die Historie steht im Zentrum, sondern die Geschichte eines Verstoßenen. Darauf wollen wir hinaus: „Sein Sohn“ von Charles Lewinsky bietet süffige Unterhaltung vom Kind bis zum König.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir Charles Lewinskys vorangegangenen Roman „Der Halbbart“ HIER besprochen.

Charles Lewinsky: „Sein Sohn“, Diogenes, 368 Seiten, 25 Euro. E-Book: 21,99 Euro.

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