
„Wenn man einmal ins Erzählen kommt, fällt einem immer noch mehr ein, dagegen kann man nichts machen.“ Das glauben wir dem Sebi aufs Wort. Denn als Ich-Erzähler in Charles Lewinskys Roman „Der Halbbart“, nominiert für den Deutschen Buchpreis, serviert er uns eine Geschichte nach der anderen. Was wir da alles erfahren, fügt sich zu einer großen Erzählung zusammen. So intensiv ist das Vergnügen, dass der Leser gegen Ende immer langsamer liest, weil er nicht akzeptieren will, dass es schon bald mit diesem Erzählen vorbei sein soll. Dabei zählt das Buch stolze 680 Seiten.
Schwyz im 14. Jahrhundert
Eusebius, den alle Sebi nennen, ist 13 Jahre alt. Er lebt zu Beginn des 14. Jahrhunderts in einem kleinen Dorf in der Talschaft Schwyz, nicht weit entfernt vom mächtigen Benediktinerkloster Einsiedeln. Aus Sebis erfrischend naiver, dadurch der Welt die Schwere nehmender Perspektive wird von Entbehrungen und Gewalt, Gottesfürchtigkeit und Aberglaube, Egoismus und Nächstenliebe erzählt.
Mittendrin agieren viele eindrucksvolle, auch widersprüchliche Figuren. Darunter ist der Halbbart des Romantitels, dem ein Unrecht geschehen ist, das er nur zögernd preisgibt. Er ist ein lebenserfahrener und medizinisch versierter Dorfbewohner, der allerdings auf Rache sinnt. „Angst habe er in diesem Leben keine mehr übrig“, sagt er dem Sebi, „der Vorrat sei bei ihm längst aufgebraucht“. Mehr als totschlagen könne man ihn nicht – „und da sei ihm schon bedeutend Schlimmeres passiert.“
Noch viele weitere Personen sind zu entdecken. So stehen Sebis Brüder Poli und Geni für Hölle und Himmel – der eine sucht die Selbstverwirklichung im Soldatentum und der andere ist ein geschätzter Ratgeber des Landammanns. Ihr Onkel Alisi fällt als gewissenloser Haufen-Anführer und narzisstischer Schwadroneur auf, der mit seiner tumben Art auch noch durchkommt. Stoffel der Schmied gefällt uns, dessen Tochter Kätterli, der falsche Priester Hubertus, der alte Laurenz – ja, da sind viele Menschen, deren Bekanntschaft sich lohnt.
Sebi sucht seinen Platz
Sebi weiß, dass es bei ihm nicht reicht zum Soldaten, auch nicht zum Mönch und nur bedingt zur Feldarbeit. Immerhin – dem Totengräber hilft er regelmäßig beim Ausheben, weil dem alle Knochen wehtun. Aber welche Rolle soll Sebi im Leben einmal einnehmen? Eines Tages weiß er es: Er will dem Teufels-Anneli nacheifern, das als Erzählerin auf Tournee geht und im Programm „Klassiker“ und Novitäten präsentiert. Mit Geschichten, davon ist Sebi überzeugt, lasse sich vieles am besten beschreiben. Und dem Teufels-Anneli reicht‘s, um satt zu werden. Dann könnte es doch auch bei ihm klappen.
Charles Lewinsky fesselt seine Leserschaft von Kapitel zu Kapitel – 83 sind es insgesamt – mit Tragischem und Poetischem, mit Witz und Spannung, auch mit Erhellendem über eine ferne Epoche. Die Erzählung ist dezent gespickt mit Redewendungen und mit Helvetismen, die ihr eine kräftige Würze geben. Die Vokabeln werden vom Diogenes Verlag online erläutert: Von „angattigen“ für „angehen“ bis „zäukeln“ für foppen. Eine persönliche Lieblingsvokabel haben wir: „prälaggen“ für „wichtigtuerisch schwatzen“. Und gleich dahinter: „Schlötterlinge anhängen“ für „beleidigen“.
Eine Geschichte unter Sebis 1001 Geschichten ragt heraus. Denn zu ihr führt vieles hin und von ihr lässt sich vieles ableiten. Darin geht es um den Überfall der Landbevölkerung auf das Kloster Einsiedeln. Auslöser war der sogenannte Marchenstreit über die Rechtmäßigkeit von Grenzziehungen. Man kann es auf der Internet-Seite des Klosters Einsiedeln nachlesen: „Politische Wirren fügen dem Gotteshaus großen Schaden zu. Besonders zu erwähnen ist der sogenannte Marchenstreit mit den Landleuten von Schwyz, welcher in einem Überfall auf das Kloster und der Entführung der Mönche nach Schwyz in der Dreikönigsnacht des Jahres 1314 gipfelt.“ Das Kloster beruft sich im Roman auf Urkunden, deren Echtheit ebenda angezweifelt werden.
Trump ist nur einen Wimpernschlag entfernt
Was ist wahr und was ist falsch? Dieser Frage geht Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, in vielen Varianten nach. Sebi selbst ist ein kritischer Zuhörer. Er weiß: Für wahr wird auch mal das gehalten, was nichts mit den Tatsachen zu tun hat. Das ist nicht immer harmlos. Der Halbbart, dem man ein böses Gerücht angehängt hat, muss es bitter erfahren – sein halbverbranntes Gesicht ist davon ein unübersehbares Zeugnis. Nur allzu oft wollen die Zuhörer glauben, was ihnen erzählt wird. Zumal dann, wenn ihre Sache in ein strahlendes Licht gestellt wird – da nicken sogar diejenigen zustimmend, die es selbst ganz anders erlebt haben. Dass man bei der Lektüre solcher Passagen auch an das trumpisierte Amerika denken muss, liegt nahe. Das Hohe Mittelalter ist in diesen Lesemomenten nur einen Wimpernschlag von der Gegenwart entfernt.
Gegen Ende des Romans hat sich Sebi als Erzähler schon einen Namen gemacht. Deshalb wird er von Onkel Alisi zu einem Loblied gezwungen. Ein hinterhältiger Überfall auf den habsburgischen Herzog soll als Mutter aller mittelalterlichen Schlachten gepriesen werden. Wie man heute so sagt: Ein hübsches Narrativ ist erwünscht. Sebi sucht sein Heil in der unglaubwürdigen Übertreibung. Er hofft, das Publikum lache ihn aus wegen seiner hanebüchenen Heldengeschichte. Doch stattdessen bricht Jubel los. Und der Onkel ist hoch zufrieden: „Genau so ist es gewesen, genau so.“ Das Teufels-Anneli sagt: „Das war eine sehr schöne Geschichte, Eusebius. Man wird sie bestimmt noch lange erzählen, und irgendwann wird sie die Wahrheit sein.“
Die Kunst des Erzählens wird hier kritisch beleuchtet und hinreißend gewürdigt. Das ist ein Fest und eine Freude. Die Wette gilt: Kein Roman wird in diesem Jahr so viele kraftstrotzende Geschichten erzählen wie „Der Halbbart“ von Charles Lewinsky.
Martin Oehlen
Charles Lewinsky: „Der Halbbart“, Diogenes, 680 Seiten, 26 Euro. E-Book: 22,99 Euro.
