Sieben Schwestern erschaffen Australien: Auf den „Songlines“ der Aborigines unterwegs im Humboldt-Forum und im Hirmer-Verlag

Das Gemälde „Kungkarangkalpa Walka Board“ von Malya Teamay zeigt mehrere Szenen aus dem Sieben-Schwestern-Mythos. Im Katalog wird das Bild so gedeutet: Beim Witapula-Felsloch, ziemlich mittig dargestellt als rote Kreise in einer weißen floralen Form, gehen die Schwestern schwimmen, werden aber von ihrem Verfolger erschreckt. Darauf tauchen sie unter und wieder auf in einem Wasserbohrloch, das am unteren Rand zu sehen ist – diesmal sind es weiße Kreise in einer roten floralen Form. In der Mitte des Bildes verläuft ein Gebirgskamm, hinter dem der Verfolger bereits lauert. Copyright: the artist / VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Image: National Museum of Australia

Bruce Chatwin hat den Begriff geprägt: „Songlines“. So nannte der Dichter und Reisende im Jahre 1987 sein großes Outback-Buch, das auf Deutsch unter dem Titel „Traumpfade“ erschienen ist. Die Songlines haben dadurch an Prägnanz, Präsenz und Popularität gewonnen. Ein Begriff aus der westlichen Welt. Bei den Aborigines, den Ureinwohnern Australiens, heißen sie hingegen Tjukurpa, Altyerre oder Kujika.

Ein Netz aus Mythen

Was sich dahinter verbirgt, ist in seiner Totalität kaum zu erfassen. Auf jeden Fall handelt es sich um eine uralte Kartierung des australischen Kontinents – weit vor der Zeit, als in der europäischen Antike eine Ahnung von der „terra australis“ aufkam. Dabei geht es nicht nur um die Wegstrecke von einer Lagerstätte zum nächsten Wasserloch. Bei weitem nicht. Vielmehr erzählen die Songlines die Schöpfungsgeschichte, die zu den Vorfahren in der Traumzeit zurückführt, dem „Dreaming“.

Eine Annäherung an dieses Netz aus Mythen unternimmt nun eine Ausstellung im Berliner Humboldt-Forum. Dazu erscheint im Hirmer Verlag ein anregender und vielstimmiger Katalog: „Songlines – Sieben Schwestern erschaffen Australien“.

Die Landschaft brodelt und wogt

Der Mythos von den Sieben Schwestern, vor allem in West- und Zentralaustralien verbreitet, variiert zwischen den einzelnen Sprachgruppen und Regionen. Im Kern geht es in dieser Schöpfungsgeschichte darum, dass sieben Schwestern von einem Verfolger mit magischen Fähigkeiten belästigt werden. Auf ihrer Flucht vor dieser lüsternen Gestalt durchqueren sie drei Wüsten und unternehmen auch einen Abstecher zu den Sternen. Im Katalog schreibt Kim Mahood, dass die Landschaft unter dem Eindruck dieser Verfolgungsjagd „vor sexueller Begierde brodelt und wogt“.

Die Schöpfungswesen modellieren also die Erde, auf der sie unterwegs sind, und laden sie auf mit ihrem Wissen. Die Landschaft wird solcherart zu einem Text, der von den Aborigines gelesen werden kann. Allerdings – heutzutage ist das Wissen um die einschlägigen Geschichten fragil. Auch wegen der „Überzeichnung“ der Landschaft durch Industrie und Stadtentwicklung, wie es heißt. Aber vor allem, weil die Jüngeren nicht mehr so eng wie ehedem an den Lippen der Älteren hängen. Deshalb ist das Songlines-Projekt in Australien in Angriff genommen worden. Es gilt, diesen Schöpfungsschatz für das kulturelle Gedächtnis zu bewahren.

Das Wissen der „Senior Custodians“

Eine enorme Aufgabe, denn es gibt dominante Songlines wie die der Sieben Schwestern, aber auch kurze und wenig bekannte Songlines. Behütet werden sie von den „Custodians“. Was die Pfade an Wissen bieten, wird zum Teil öffentlich dargestellt. Aber das ist eben längst nicht alles. Die geheimen Partien werden nur unter den „Senior Custodians“ kommuniziert.

Und selbst die Hinweise, die öffentlich gemacht werden, erschließen sich einem Nicht-Aborigine, zumal einem „Whitefella“ wie unsereinem, nicht immer. Zuweilen bleibe es bei Andeutungen, schreibt Mike Smith im Katalog. Er hat sich 40 Jahre lang mit den Songlines befasst. Er ist überzeugt, „dass das Dreaming ein ganzes Glaubenssystem bildet, dass es eine spezifische Weltanschauung ist und eine der großen Religionen der Welt.“

Black Lives Matter und Me-Too

Kurator Margo Neale vom National Museum of Australia in Canberra, das die Wanderausstellung konzipiert hat, verbindet mit der Schöpfungsgeschichte der Sieben Schwestern aktuelle Fragen. Er schreibt: „In diesem großen Drama voller Intrigen, Geheimnisse und Schönheit geht es um Leidenschaft und Gefahren der Schöpfung, Begehren, Liebe, Flucht und Überleben. Wie alle universellen Erzählungen dieser Art hat sie im Laufe der Zeit nichts von ihrer Relevanz eingebüßt. Ihre Lehren sind auch heute noch von entscheidender Bedeutung für Bewegungen wie Black Lives Matter, Me-Too und andere Umwelt- und Klimabewegungen.“

Seit Jahrtausenden schon handeln künstlerische Zeugnisse von den Songlines. Auf Stein und Holz, Haut und Erde, in Gesang und Tanz. Seit einigen Jahrzehnten sind sie auch auf Leinwänden zu finden, zumal auf den populären Dot Paintings. Zahlreiche dieser Kunstwerke werden nun im Humboldt-Forum und im Begleitkatalog gezeigt und erläutert.

Wo Goannas unterwegs sind

Und Erläuterung ist notwendig. So ist es eine feine Buch-Idee, das Gemälde „Yarrkalpa“ – im Original 15 Quadratmeter groß – auf einer Doppelseite zu präsentieren und mit einer transparenten Folie zu versehen, die allerlei Hinweise aufweist. Wo das ungeübte Auge nur bunte Abstraktion erkennt, wird plötzlich offensichtlich, wo Sandhügel sich erheben, wo das Gras verbrannt ist und wo es besonders einfach ist, Goanna-Spuren zu verfolgen. Goannas? Warane halt.

Die Songlines der Aborigines führen in eine faszinierend fremde Welt. Wer einen ersten Schritt auf ihnen unternehmen will, ist hier am rechten Platz, in der Ausstellung wie im Katalog.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

finden sich einige Beiträge über Australien. Zuletzt haben wir im April HIER das Katalogbuch „Inspired by Country“ vorgestellt, das sich mit der Rindenmalerei der Aborigines befasst. Der Band aus dem Hirmer Verlag erscheint anlässlich einer gleichnamigen Ausstellung im Museum Fünf Kontinente in München, die noch bis zum 22. September 2022 läuft.

Ausstellung

im Humboldt-Forum in Berlin bis zum 30. Oktober 2022. Eintritt: 12 Euro (erm. 6 Euro).

„Songlines – Sieben Schwestern erschaffen Australien“, hrsg. von der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, Hirmer, 372 Seiten, 34,90 Euro.

Hinweis zum Bild im Header: Copyright: NMA / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, Foto: Stefanie Loos

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