„Ich bin ein augenblicklicher Mensch“: Jürgen Becker stellt seine neuen Gedichtbände vor

Jürgen Becker – da hinten, gleich rechts – auf der Bühne der Piazzetta im Kölner Rathaus. Foto: Bücheratlas

Die Jürgen-Becker-Festspiele sind in vollem Gange. Anlass dafür ist der bevorstehende 90. Geburtstag des Böll- und Büchnerpreisträgers am 10. Juli. Außerdem stehen zwei Neuerscheinungen vor der Auslieferung. Die „Gesammelten Gedichte 1971-2022“ und der Band „Die Rückkehr der Gewohnheiten“ kommen offiziell erst Ende der Woche in den Handel, so dass wir uns eine Besprechung für den Freitag vorgenommen haben. Gleichwohl bieten besonders ambitionierte Buchhandlungen beide Titel bereits an.

„Da schließt sich ein Kreis“

Nun hat Jürgen Becker die Bände in zwei öffentlichen Veranstaltungen schon einmal präsentiert. Zunächst war das am vergangenen Freitag im Literarischen Colloquium in Berlin der Fall. Im Prinzip wolle er nicht mehr reisen, sagte uns der Kölner Autor vorab im Gespräch. „Beim LCB mache ich eine Ausnahme.“ Grund dafür ist die Eröffnung des „Studio LCB“ vor über 30 Jahren, einer zweistündigen Veranstaltung, die dann regelmäßig als Hörfunksendung im Deutschlandfunk ausgestrahlt wird.

Der Hörfunk-Kollege Hajo Steinert sei einst mit dieser Idee zu ihm gekommen, als Becker noch Hörspielchef beim Kölner Sender war. Das Problem damals: Das Halbstundenprogramm sah eine so lange Strecke nicht vor. „Es gab nur eine Sendezeit – der Samstagabend, meine Hörspielzeit. Gut, sagte ich dann: Der letzte Samstag im Monat ist dann ‚Studio LCB‘.“ Bei der ersten Sendung sei er dabei gewesen. Und als er jetzt gebeten wurde, mit den neuen Büchern aufzutreten, habe er gedacht: „Da schließt sich ein Kreis.“

Kinderdreigestirn trifft auf Lyrik

Im Kölner Rathaus gab es auf Einladung von Literaturhaus und Stadt am Dienstagabend den zweiten Auftritt. Der Beginn belegte zunächst einmal mehr die Menschenfreundlichkeit des Jürgen Becker. Beim Einzug gab es einen Handschlag mit Marcel Beyer in der ersten Reihe, sozusagen stellvertretend gereicht für alle anwesenden Weggefährten, Kollegen, Literaturfreunde. Und nachdem Oberbürgermeisterin Henriette Reker ihre Begrüßung beendet hatte, erhob sich der Autor, um sie von der Bühne zu geleiten. „Danke“, sagte die Oberbürgermeisterin, „ich kenne mich hier aus.“

Jürgen Becker, der Sammler der Augenblicke, legte dann gleich mit einer frischen Anekdote los. Im Vorgespräch habe ihm die Oberbürgermeisterin geschildert, dass sie soeben das Kölner Kinderdreigestirn zu Besuch gehabt habe. Dem habe sie den 1120 Seiten starken Sammelband mit den Gedichten aus den Jahren 1971 bis 1922 gezeigt. Und siehe da: Die Kinder blätterten offenbar mit Neugier in diesem „Backstein“ beziehungsweise „Monstrum“. Das gefalle ihm sehr. Wenn nun eine „Korrespondenz“ zwischen dem Kölner Karneval und der zeitgenössischen Poesie entstehen sollte, dann habe die Oberbürgermeisterin dafür an diesem Tag den Boden bereitet.

Marion Poschmanns frühe Leseerfahrung

Marion Poschmann hat die „Gesammelten Gedichte“ herausgegeben und mit einem ausgiebigen Nachwort versehen. Die aus Essen stammende Lyrikerin sagte über ihre frühen Leseerfahrungen mit Jürgen Becker: „Das Landschaftliche in den Texten hat mich sofort in den Bann gezogen.“ Nicht zuletzt auch deshalb, weil sie darin ihre Kindheitsumgebung wiedererkennen konnte.

Neben den Lesungen aus den neuen „Journalgedichten“ lieferte Jürgen Becker im Gespräch mit Moderatorin Sabine Küchler auch noch einige Grundlagen zum dichterischen Arbeiten. Vorneweg bekannte der Autor, dass es ihm nicht möglich sei, einen Plot für eine Geschichte zu erfinden: „Das kann ich nicht.“ Er sei angewiesen auf das, was er erlebe und erfahre. In dem Zusammenhang erinnerte er an seine im vergangenen Jahr verstorbene Ehefrau Rango Bohne, deren Malereien und Collagen ihn zeitlebens begleitet haben und mit denen er schreibend in Korrespondenz getreten sei. Auch die Fotografien seines Sohnes Boris Becker seien ihm immer wichtig.

„Das Vergangene wirkt weiter“

„Ich bin ein sehr augenblicklicher Mensch“, sagte er. „Augenblicke reihen sich aneinander.“ Und jeder Augenblick führe zurück in die Vergangenheit, ob man sie nun kenne oder auch nicht. „Das Vergangene wirkt weiter.“ Nicht zuletzt gelte das für seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Und auch das noch: „Schreiben besteht aus Warten – auf die nächste Zeile.“

Der Rest der Veranstaltung war Beifall und ein Glas im Stehen.

Martin Oehlen

Eine Besprechung

der Neuerscheinungen aus dem Suhrkamp Verlag folgt am Freitag.

Veranstaltung

Auftritt zum Auftakt des neuen Festivals „Literatur am Dom“ in Altenberg, 23. Juni, 18 Uhr. Moderation: Joachim Sartorius.  

Jürgen Becker: „Gesammelte Gedichte 1971-2022“, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Marion Poschmann, Suhrkamp, 1120 Seiten, 78 Euro. E-Book: 69,99 Euro.

Jürgen Becker: „Die Rückkehr der Gewohnheiten – Journalgedichte“, Suhrkamp, 78 Seiten, 20 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

Ein Gedanke zu “„Ich bin ein augenblicklicher Mensch“: Jürgen Becker stellt seine neuen Gedichtbände vor

  1. Lieber Herr Oehlen,

    (Und Grüße ähnlichen Formats an die nicht weniger liebe Frau Pluwatsch!):

    Ich habe zwei kleine Fragen:

    Wo gab es das im letzten Satz erwähnte Glas im Stehen? 2. Sind Sie imstande und bereit, mir Jürgen Beckers Anschrift mitzuteilen, hilfsweise auch die E-Mail-Anschrift oder beide?

    Und wohnte er in Dellbrück um die Ecke, ich ginge ganz gewiss nicht abends zu ihm, um zu klingeln, ich möchte ihm nur zum Geburtstag gratulieren. Als ich neulich bei ihm war, für den Stadt-Anzeiger, wohnte er „Am Klausenberg“. Und das ist Brück, nicht Dellbrück, und Jahrzehnte her.

    Ich habe mir noch einmal die „Geschichte der Trennungen“ vorgenommen und finde, unverstellt, die Topographie meiner Kindheit wieder: Von Köln im Krieg nach Osten, dieselben Orte der Evakuierung: wie Jörg Winter: Dahme, Treuenbrietzen (dort bin ich zufällig geboren), Jüterbog. Jetzt wird alles gut, sagte mein Vater auf dem Bahnhof Jüterbog zu meiner Mutter. Wir sind in Schweden. Er hatte „Jüterbog“ als „Göteborg“ gelesen .Von dort aus Jahre später einmal in den Hohen Fläming, wo ich den Tag des Endspiels 1954 vor einem vielseitigen Radio zugebracht habe nach langer Autofahrt auf einem Lastwagen mit Holzvergaser und zwei Reifenpannen, je eine bei der Hin- und Rückfahrt… Dann sagte alle, Deutschland sei Weltmeister, und nannten die Namen: Fritz Walter, Hans Schäfer, Helmut Rahn. Mit sagte das alles nichts, denn mein Deutschland war nicht Weltmeister. Das hätte ich gewusst.

    Mein Deutschland kannte ich von Filmen, die im Haus der Eisenbahner frei zu sehen waren: Junge Sowjetbürger, die die Welt befreien. Oder Dokumentarfilme mit einer auffallenden Vorliebe für KZ-Nekrophilie: Berge von jüdischen Zähnen, Gebirge von Haaren, Lampenschirme aus der Manufaktur von Ilse Koch. Das alles hatten wir verbrochen. Nur konnte ich mich nicht daran erinnern.

    Ich schließe lieber. Meine beiden Fragen wollen Sie bitte nicht vergessen… Dann vergesse ich nicht den Geburtstag!

    Mit besten Grüßen an Prometheus‘ Geschwister

    Ihr Michael Bengel

    Like

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s