
Die Trennwand der Kölner Universitäts-Aula wird bei der Eröffnungs-Veranstaltung hochgefahren, um den draußen vor der Türe wartenden Literaturfreunde Platz zu verschaffen. Fotos: Bücheratlas
Die „Poetica“ ist in Köln angekommen. Anders lässt sich der Zustrom zu den Veranstaltungen des Festivals kaum erklären, das vom Internationalen Kolleg Morphomata an der Universität zu Köln und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt veranstaltet wird. Das ist gewiss bei dieser fünften Ausgabe, die am 26. Januar endet.
Dieser folgten der Rumäne Mircea Cartarescu, der aus Südtirol stammende und derzeit auf der „Raketenstation Hombroich“ residierende Oswald Egger, der aus Los Angeles angereiste Schweizer Christian Kracht, Mara Lee aus Schweden, Lebogang Mashile aus Südafrika und Marion Poschmann aus Berlin. Allein die Israelin Agi Mishol hatte ihren Köln-Flug kurzfristig streichen müssen: Einen Tag vor der Eröffnung des Festivals war sie auf einer Treppe gestürzt und hatte sich den Arm gebrochen.

Sechs Autoren (von neun) warten auf den Anfang: Mara Lee, Lebogang Mashile, Jo Shapcott, Mircea Cartarescu, Aris Fioretos und Oswald Egger (von links).
Das Motto, unter dem sich die Autoren zusammenfinden, zielt auf den „Rausch“, wie Monika Schausten von der Philosophischen Fakultät der Kölner Uni bei der Eröffnung in der Aula sagte. Damit spiele man nicht auf die Kölner an, die – „halb durch Rituale geschützt“ – an Karneval außer Rand und Band gerieten. Vielmehr gehe es, wie Aris Fioretos ausführte, um „Jubel, Exaltation, Hingerissenheit, Inspiration und Euphorie“, die allesamt zur Grundausstattung der Poesie gehörten. Da spiele der Musenkuss ebenso eine Rolle wie die eine oder andere Droge. Fioretos versprach sechs Tage des Schwebens, Taumelns und Tauchens.
Die Texte der Autorinnen und Autoren fügten sich zu einem kunterbunten Literaturteppich zusammen. Einen Beitrag, der selbst einem Rausch glich, steuerte Oswald Egger bei, der als „bewusstseinserweiternder Autor“ angekündigt worden war. Sprachspielend und lautmalend lieferte er ein akustisches Kleinod ab, wobei er vom Rhythmus gepackt in die Knie ging oder die Schultern hob und mit den Händen die „glutdurchsetzten“ Sätze zu modellieren schien. Erfrischend auch der Soundfile, den die abwesende Agi Mishol geschickt hatte: Während sie irgendwo in Israel ihr Gedicht aufzeichnete, maunzte im Hintergrund eine Katze. Die Übersetzung dieser Verse wie auch anderer fremdsprachiger Texte steuerten im Übrigen sehr zuverlässig die Theaterschauspieler Nicola Gründel und Philipp Plessmann bei. Auch ihr Klavierklangteppich, mit dem Übergänge im Programm ausgelegt wurden, war durchaus attraktiv.
Aris Fioretos stellte die Teilnehmer in einer Art Speed-Dating vor. Mehr als jeweils drei Fragen waren nicht drin. Aber die hatten es fast alle in sich. „Wie vermisst man Poesie?“ „Soll man sich dem Bann der Worte übergeben?“ „Wohin führt der poetische Furor?“ „Schließen sich Ernst und Euphorie aus?“ Tja. Mara Lee meinte bei ihrer Befragung, sie müsse jetzt erst einmal in Ruhe nachdenken und werde im Laufe der Woche mit einer „smashing“ Antwort zurückkommen. Und Christian Kracht konstatierte: „Aris – Du stellst immer so herrliche Fragen.“
Mit Christian Kracht beim Zahnarzt
Kracht nutzte sein Zeitfenster, um eine frische Zahnarzt-Erfahrung mitzuteilen, die zum Festival-Thema passte. Er habe große Angst vor dem Zahnarzt, der in diesem Falle eine Ärztin war, und nachdem er drei Betäubungsspitzen bekommen habe, habe diese mit dem Bohren begonnen. Doch das spürte er sehr wohl. Viele Spritzen mehr („zwölf oder 20“) mussten gesetzt werden – denn Krachts Adrenalin-Ausstoß, so die Diagnose, habe das Betäubungsmittel „aufgefressen“. Der Autor bekannte weiter, dass er eine Faszination für die Beobachtung der Grausamkeit hege: „Ich weiß nicht, woran das liegt. Es reizt mich.“ Um dann noch einmal zu versichern, wie unverständlich es für ihn sei, dass jemand Zahnarzt werde. „Aber noch schlimmer ist Proktologe.“

Christian Kracht (rechts im Sessel) im Gespräch mit Kurator Aris Fioretos.
Zwischendurch hatte auch Günter Blamberger das Wort ergriffen. Der Direktor des Internationalen Kollegs Morphomata fasste zusammen: Rausch und Poesie gehören seit jeher zusammen. Und er erinnerte daran, dass vor 50 Jahren die Kölner Autoren Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla die viel beachtete Anthologie „Acid“ herausgegeben haben; ein Band mit Texten von US-Autoren war das, der schon im Titel auf die Droge LSD verwies.
All das verfolgte das Publikum mit großer Aufmerksamkeit. Lebogang Mashile aus Johannesburg war beeindruckt. In ihrer Heimat, sagte die Lyrikerin, die ihre Verse vom Smartphone ablas, müsse sie bei Auftritten gegen den Lärm des Publikums ankämpfen. Ja, dieses Publikum geselle sich zu ihr auf die Bühne, denn das wolle auch „performen“. Das freilich war in der Aula der Kölner Universität nicht zu befürchten.
Die Akzeptanz bezeugte auch der Abend mit Marion Poschmann und Oswald Egger im überfüllten Literaturhaus. Da lauschten die Literaturfreunde (und ein Baby) selbst im Eingangsbereich, wo die Bühne nicht mehr einzusehen war, sehr konzentriert.
Unter dem Motto „Orte der Sehnsucht“ wurde zunächst Marion Poschmann von der Literaturwissenschaftlerin Barbara Naumann einvernommen. Konkret ging es dabei um den von einem Unwetter verwüsteten Vergnügungspark Coney Island, dem sich Poschmann in einem Gedichtzyklus widmet, sowie um den Roman „Die Kieferninseln“, in dem es um eine wildromantische Gegend in Japan geht, die angeblich auch manche Selbstmörder anlockt. Die Autorin bekannte, dass sie sich gerne „faden Orten“ zuwende, um dann festzustellen, dass diese bei genauerer Betrachtung so fad dann doch nicht seien.
Oswald Egger und die Buddenbrooks
Ein solch fader Ort ist angeblich auch das Val di Non in Südtirol, aus dem Oswald Egger stammt, der aktuell auf der Raketenstation Hombroich lebt. Aus dieser Distanz hat er sich wortfindungsselig auf das Tal in den Alpen eingelassen, durch das ein Fluss mit dem schönen Namen Novella fließt. Dort gebe es viele Analphabeten, sagte Egger, unter ihnen sei auch sein Vater gewesen. Man habe wenig geredet im Tal, da es nicht zu erzählen gegeben habe: „Das war das Gegenteil von Buddenbrooks.“ Davon handeln Eggers wilde, witzige, querfeldein jagende Wortkaskaden. Wie das wohl sein werde, heißt es im Text, „gelebt zu haben, ohne gewesen zu sein.“

Oswald Egger am Pult im Literaturhaus Köln.
So macht die „Poetica“ Leselaune. In dieser Woche stehen noch zwei Veranstaltungen an. Und im nächsten Jahr geht es weiter: Dann wird Jan Wagner der Kurator und die „littérature engagée“ sein Thema sein.
Martin Oehlen