Sind alle Wahlen Schwindel – oder nur einige davon? Fernando Pessoas Erzählungen aus einer Zeit, als Portugal rekordverdächtig viele Regierungswechsel erlebte

Die Sonne lacht auf dieser portugiesischen Kachel – egal, was auf der Erde los ist. Foto: Bücheratlas

Fernando Pessoa (1888-1935) ist nicht nur der größte Dichter der portugiesischen Neuzeit. Auch ist er ein Mann der vielen Namen. Sein Werk durchziehen Pseudonyme und Heteronyme – erfundene Namen, denen auch noch eine Vita (und ein Horoskop) angedichtet wird. Getreu dem Motto: Ich ist ein anderer. Insofern ist es nahezu bemerkenswert, wenn Pessoa sich auf einem Buchdeckel als Autor ohne Maske (metaphorisch, nicht medizinisch gemeint) zu erkennen gibt.

„In Evaristos Apotheke“

Im Kupido Verlag von Frank Henseleit erscheinen jetzt zwei Erzählungen von Fernando Pessoa – aus gutem Grund versehen mit dem lateinischen „ipse“, also: höchstpersönlich. In beiden Fällen diskutieren Männer angeregt und gar nicht – wie es das Klischee der Saudade vorgibt – schwermütig über Politisches. Das ist zu Zeiten der Ersten Republik ein pikantes Thema. Denn in den 16 Jahren zwischen 1910 (Sturz der Monarchie) und 1926 (Beginn des diktatorischen „Estado Novo“), gab es – so steht’s im Nachwort – insgesamt 45 Regierungswechsel.

Vor diesem überhitzten Hintergrund wird „In Evaristos Apotheke“ (1922) erörtert, ob nun alle Wahlen ein Schwindel seien oder doch mal eine von ihnen als rechtens angesehen werden dürfe. Ob das Schicksal des Vaterlands wichtiger sei als ein wie auch immer gearteter Treueschwur. Und ob der Sieg die Rechtfertigung des Siegers sei.

„Der Bankier und Anarchist“  

„In Evaristos Apotheke“ endet mit drei eingeklammerten Pünktchen. Die Erzählung ist – wie so einiges in Fernando Pessoas Werk – Fragment geblieben. Hingegen ist der zweiten, deutlich längeren, in einem Restaurant angesiedelten Erzählung ein abgerundetes Ende beschieden: „Der Bankier und Anarchist“ (1922/1935) bestellt auf der letzten Seite sehr zufrieden, geradezu triumphal die Rechnung. Denn er ist sich gewiss, seinem Gesprächspartner zur Genüge dargelegt zu haben, warum er als Anarchist ein Bankier sei, ja, geradezu sein müsse. Zwar geht es seiner Logik nach um die Freiheit aller – aber um dorthin zu gelangen, müsse sich jeder erst einmal um seine eigene Freiheit kümmern. Da spiele die Unabhängigkeit von Geldsorgen eine erhebliche Rolle. 

Der Clou der vorliegenden Ausgabe ist, dass den deutschen Fassungen jeweils das portugiesische Original hinzufügt wird. Im Fall der Erstübersetzung „In Evaristos Apotheke“ ist es sogar das Typoskript – und zwar das des Durchschlags mit den vom Pauspapier aufgeweichten Buchstaben. Beim neu übersetzten „Bankier und Anarchist“ gibt es überdies noch Pessoas eigene Übertragung ins Englische. Die Sprache war ihm, der einige Schuljahre in Südafrika verbracht hatte, sehr wohl vertraut. Sogar einige Gedichte und Prosatexte verfasste er auf Englisch. Gleichwohl wirkt seine Version in diesem Falle karg und ist nicht über zwei Seiten hinausgelangt, also ebenfalls Fragment geblieben.

„Verdammt clever“

Übersetzer Frank Henseleit ermöglicht den Leserinnen und Lesern mit der Bereitstellung der Originaltexte, die eine oder andere Passage abzugleichen. Da kann man dann die Freiheiten des literarischen Übersetzens ausloten, wenn etwa „Sim, voce tem razao“ als „Verdammt clever“ daherkommt und nicht wortwörtlich als „Ja, du hast recht“. Auch über stilistische Varianten ließe sich nachdenken: Hat die Apotheke „unvermindert“ geöffnet oder doch lieber „immer“ (sempre); ist ein Wirt „zu“ oder hat er „geschlossen“ (fechado).

Gewiss ist dieser Band ein Spezialangebot für Literaturfreunde. Aber wer über „Das Buch der Unruhe“ zum Pessoa-Fan geworden ist, wird hier gerne zugreifen. Zudem ist es eine Ausgabe, die man schon deshalb mit Respekt beziehungsweise Wohlgefallen in die Hand nimmt, weil sie im attraktiven Leineneinband daherkommt und überhaupt bibliophil gestaltet ist. Selbst auf ein Lesebändchen wurde bei den 128 Seiten nicht verzichtet. So ist diese Ausgabe in jeder Hinsicht eine gute verlegerische Tat.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

findet sich eine weitere Veröffentlichung des auf iberische Literatur spezialisierten Kupido-Verlags! Da geht es um „Ifni – Spaniens letztes koloniale Abenteuer“ von Manuel Chaves Nogales – und zwar HIER.

Fernando Pessoa: „In Evaristos Apotheke / Der Bankier und Anarchist (1935)“, dt. von Frank Henseleit, Kupido Verlag, 128 Seiten, 24,80 Euro.

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2 Gedanken zu “Sind alle Wahlen Schwindel – oder nur einige davon? Fernando Pessoas Erzählungen aus einer Zeit, als Portugal rekordverdächtig viele Regierungswechsel erlebte

  1. Der wäre mir sicherlich entgangen. Wie schön, darauf nun aufmerksam gemacht worden zu sein. Ich habe den „Bankier“ in der alten Übersetzung gelesen und fand ihn eigenartig spröde im Vergleich zu diesem vor Poesie nur so übersprühenden „Buch der Unruhe“ … aber vielleicht lag dies an der Übersetzung.

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