Rübenkraut und Anarchie am Niederrhein: Wolfgang Schiffers Gedichtband „Dass die Erde einen Buckel werfe“

Was in der Kindheit auf den Tisch kam, spielt in Wolfgang Schiffers Lyrik-und-Prosa-Band keine geringe Rolle. Da darf man sich dann auch mal für so ein Feldmotiv aus Nettetal entscheiden. Foto: Bücheratlas

Rübenkraut war zu jeder Tageszeit willkommen. Morgens, mittags, nachmittags und abends. Das entnehmen wir den sieben Listen mit den Speisen der Kindheit, die Wolfgang Schiffer seinem Gedichtband „Dass die Erde einen Buckel werfe“ beigefügt hat. Eine Liste für jeden Tag. Klar, es gab vieles mehr, auch Räucherwurst und Bückling, Muckefuck und Schluckschnittchen, Biersuppe und Spiegelei. Aber nichts war von Montag bis Sonntag so häufig im Angebot wie eben Rübenkraut. Der hochdeutsch formulierten Speisenfolge fügt der Autor immer auch den „Versuch einer muttersprachlichen Rekonstruktion“ hinzu. Da lesen wir dann, wie es wohl geklungen haben mag in Lobberich am Niederrhein, wenn nach Rübenkraut verlangt wurde: „Röivekruut“.

Das Platt muss dem Hochdeutschen weichen

Die Suche nach der verlorenen Mundart ist bezeichnend für diesen Band aus dem Elif Verlag. Wolfgang Schiffer, der viele Jahre beim WDR für das Hörspiel zuständig war und ein unermüdlicher Übersetzer aus dem Isländischen ist, sammelt hier seine Erinnerungen an die frühen Jahre. An den Großvater Lorenz, der als Dachdecker arbeitete und seine Aufträge sonntags in der „Wirthschaft Küppers“ gleich neben der Dorfkirche in Empfang nahm, dies von neun Uhr bis zur Mittagszeit. An den Vater, an die Mutter, an das Kind, das er war, an den Jugendlichen – und an die niederrheinische Mundart. Mehrfach wird der Verlust des Platt beklagt, das er einst so souverän beherrschte. „Lehrer mit Linealen und Bambusstöckchen“ hätten es ihm ausgetrieben und das Hochdeutsch in seinen Kopf geschlagen.

Der schmale Band ist streng gegliedert. Er wechselt regelmäßig von der Prosaminiatur zur zweisprachigen „Wochenkarte“ und dann zu einem geradlinigen Gedicht. Es ist ein offenherziges Kompendium. Der Autor schont sich nicht. Und das ist eindrucksvoll so. Von der eigenen Scham ist einige Male die Rede – von der Scham des Kindes über die Armut seiner Eltern, dann von der Scham des jungen Mannes, sich der Armut der Eltern geschämt zu haben.

Debütgedicht und Zervelatwurst

Den Eltern wird hier mit Nachdruck die Ehre erwiesen. Da gibt es eine Hommage für den Vater und eine für die Mutter. Dem Vater für Ehrlichkeit und Zivilcourage und auch dafür, dass er es war, „der mein erstes Gedicht / in die Redaktion der Dorfzeitung trägt / und sagt / es sei von seinem Sohn“. Der Mutter für all die Liebe und die Solidarität. Als das lyrische Ich, das wir einfach mal mit Wolfgang Schiffer gleichsetzen, im Ort als „Anarchist“ bezeichnet wurde und die Verkäuferin in der Metzgerei aus diesem Grund die Mutter beinahe ignoriert hätte, sagte sie: „100 Gramm Zervelatwurst und 100 Gramm Sülze / die isst er so gern“.

Nun also literarisch heimkehrend ist der Autor, wie er selbst spekuliert, in seinem Geburtsort womöglich auf der Suche nach Trost in einem „mir unübersichtlichen Heute / im Schrecken des Jetzt“. Zudem nutzt er die Gedichte, um seine Weltskepsis im Zeichen von Umweltverschmutzung und Machtmissbrauch zu formulieren. Auch ein Korn Pathos mischt er den Versen bei: „darum bitte ich / wenn dies jemand liest bis hierher / nehmt mir die Bürde ab / schreibt Ihr weiter / haltet fest / wie wir alles daran setzen / die Welt zu vernichten / uns selbst zu verlöschen“.

Spannung zwischen dem Jetzt und dem Damals

Doch mehr als diese politisch unstrittigen Einlassungen sind es die poetischen Einblicke in die frühen Jahre, die imponieren. Auch die Speisekarten verbreiten eine dichte Atmosphäre, erzeugen eine Spannung zwischen dem Jetzt und dem Damals. So ist dies mehr als ein Gedichtband. Ein sympathisch-melancholisches Kompendium, das die Zeit fassen will, die vergangen ist.

  • Bonustrack

    Wolfgang Schiffer wurde 1946 in Lobberich geboren. Die Kleinstadt gehört seit dem 1. Januar 1970 zur neu gegründeten Gemeinde Nettetal – gemeinsam mit Kaldenkirchen, Breyell, Hinsbeck, Leuth und Schaag. Wolfgang Schiffers Gedichtband erscheint nun im Elif-Verlag von Dincer Gücyeter, der in Nettetal-Lobberich ansässig ist.

    Es ist schön in Nettetal am Niederrhein. Seen blinken, Felder leuchten, ein Wald lockt grenzüberschreitend. All das gehört zum Naturpark Maas-Schwalm-Nette. Als literarisches Refugium ist Nettetal allerdings noch nicht recht bekannt. Jedenfalls nicht, wenn man Wikipedia zum Maßstab nimmt. Auf der Liste der „Persönlichkeiten“ wird Wolfgang Schiffer als einziger Schriftsteller geführt. Aber das wird sich bald ändern. Denn Dincer Gücyeter, der als Lyrik-Verleger selbst Gedichte veröffentlicht und zuletzt mit dem Band „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“ (Elif Verlag, 2021) reüssierte, erhält in diesem Jahr den renommierten Peter-Huchel-Preis. (M. Oe.)

Auf diesem Blog

finden sich einige Beiträge von und über Wolfgang Schiffer. Darunter ist auch ein Interview, in dem er sich über seine Arbeit als Übersetzer aus dem Isländischen anlässlich eines Gedichtbandes von Linda Vilhamsdottir äußert (HIER). Einige Bücher aus Dincer Gücyeters Elif Verlag sind ebenfalls auf dem Blog vertreten – diese lassen sich leicht über die Suchmaske und dem Stichwort „Elif ausfindig machen.

Wolfgang Schiffer: „Dass die Erde einen Buckel werfe“, Elif Verlag, 60 Seiten, 18 Euro.

6 Gedanken zu “Rübenkraut und Anarchie am Niederrhein: Wolfgang Schiffers Gedichtband „Dass die Erde einen Buckel werfe“

  1. Oha, das ist doch was für mich, den Kevelaerer! Biersuppe gab’s bei uns auch, erinnere mich aber nur noch an das Wort. (Eine Eigenkreation meines Vaters: Sahnepudding mit Spaghetti-Einlage.) Aus Nettetal-Lobberich kam mein alter Kunstlehrer Hartmut Mirbach, der bei Joseph Beuys und E. Heerich studiert hatte (in Düsseldorf).
    Danke für den Buchtip. Schönen Sonntag allerseits.

    Gefällt 1 Person

  2. Pingback: Ein sympathisch-melancholisches Kompendium | Wortspiele: Ein literarischer Blog

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