
Jede Reise kommt einmal an ihr Ende. Auch die Zeitreise, die Bruno Preisendörfer tief in die deutsche Vergangenheit geführt hat, erreicht jetzt ihre letzte Station: „Als Deutschland erstmals einig wurde – Reise in die Bismarckzeit“. Die famose Expedition in vier Bänden begann im Jahre 2015 in der „Goethezeit“ („Als Deutschland noch nicht Deutschland war“), zog im Jahr darauf noch eine Mantel-der-Geschichte-Falte weiter und hinein in die „Lutherzeit“ („Als unser Deutsch erfunden wurde“). Anschließend tauchte sie wieder in der „Bachzeit“ auf („Als die Musik in Deutschland spielte“).
Deutsche Einheit von 1871
Nun ist sie also bei Otto von Bismarck (1815-1898), dem ersten Reichskanzler im neuen Deutschland, ans Ziel gelangt. Warum hier Schluss ist? Das liegt wohl am Konzept der Reihe, deren Bände rund um eine dominante Person erblühen. Eine Fortsetzung ins 20. Jahrhundert ist da kaum vorstellbar – jedenfalls nicht als „Reise in die Hitlerzeit“.
Bruno Preisendörfer hält im Vorwort fest, dass seine Zeitreisen mehr sein wollen als „touristische Ausflüge in die Vergangenheit, ohne sich deshalb zu überfliegerischen ‚Gesamtdarstellungen‘ der Epochen zu erheben.“ Selbstverständlich kommen die großen historischen Ereignisse zur Sprache – wie in diesem Falle die Deutsche Reichsgründung nebst Kaiserproklamation im Jahre 1871. Doch wichtiger noch sind für den Wahl-Berliner die Schilderung der Kultur- und Alltagsgeschichte.
Mit dem Baedeker durch die Hauptstadt
Der Autor nimmt die Sache mit der Reise recht ernst. „Wir kommen im Frühsommer 1876 am Potsdamer Bahnhof an, ein Kopfbahnhof, wie auch die anderen rund um die Stadt.“ Die Erzählperspektive hat den Vorteil, dass sie uns auf Trab hält. Preisendörfer kann uns auf diese Weise wunderbar mit der Stadt Berlin vertraut machen, wobei er sich zu Beginn auf den „brandneuen“ Reiseführer „Kiessling’s Berliner Baedeker“ stützt. Berlin bleibt im Übrigen das ganze Buch hindurch Zentrum aller Aufmerksamkeit – und wenn man sich etwas gewünscht hätte, dann allenfalls dies, dass der Blick etwas häufiger als hier geschehen in andere Landesteile gelenkt worden wäre.
Preisendörfer flaniert auf angenehme Weise durch die Bismarck-Jahre. Sein Ton ist leicht und flüssig. Die Schlaglichter, die er wirft, sind immer wieder erhellend und oft pointiert. So erfahren wir irgendwann, was eine Pickelhaube ist. Die gab es einst auch aus Leder. „Aus Metall machte sie aber mehr her, sie glänzte so prächtig, man könnte auch sagen: Sie blendete, vor allem mental, nicht bloß optisch.“
„Die Hälfte Ihres Museums ist gestohlen“
Immer wieder spürt der Leser, wie unsere aktuellen Fragen zu Fragen an die Vergangenheit werden. Dass es 1872 eine Typhus-Epidemie in Berlin gegeben hat, nehmen wir aufmerkend zur Kenntnis, weil wir mittlerweile alle Seuchenexperten sind.
Und dass im kolonialen Taumel viele Kulturgüter in Afrika geraubt worden sind, was heute Gegenstand internationaler Debatten ist, wird scharf beleuchtet. Richard Kandt, 1907 zum Kaiserlichen Statthalter im heutigen Ruanda ernannt, schreibt an den Direktor des Völkerkunde-Museums in Berlin: „Überhaupt ist es schwer, einen Gegenstand zu erhalten, ohne zum mindesten etwas Gewalt anzuwenden. Ich glaube, dass die Hälfte Ihres Museums gestohlen ist.“
Antisemitismus grassiert
Reich an Fragen war die Zeit selbst. Bruno Preisendörfer führt die „Arbeiterfrage“ an, die „Soziale Frage“, die „Wohnungsfrage“, die „Dienstmädchenfrage“ (wegen der Arbeitsverhältnisse), die „Frauenfrage“ und die „Judenfrage“. Was den Antisemitismus der Bismarckzeit betrifft, so wird der Autor vielfach fündig, auch bei Karl Marx und Theodor Fontane. Und Bismarck bekannte als junger Junker im Jahre 1847: „Ich gestehe ein, dass ich voller Vorurteile stecke, ich habe sie mit der Muttermilch eingesogen, und es will mir nicht gelingen, sie wegzudisputieren.“
Aber es geht immer noch schlimmer. Der Schriftsteller Gustav Freytag „glaubte, kein Antisemit zu sein, weil er den Juden die Möglichkeit offenhalten wollte, keine zu bleiben.“ Den extremsten Ausdruck fand der Antisemitismus nach Ansicht Preisendörfers 1899 in den „Hamburger Beschlüssen“ der Deutschsozialen Reformpartei. Diese hielten fest, dass die „Judenfrage“ durch die „schließliche Vernichtung des Judenvolkes gelöst werden“ müsse.
Das Große, aber vor allem das Kleine
Schon in seinem ersten Band über die Goethezeit hatte Bruno Preisendörfer angekündigt, dass sein „Zeitreiseführer“ das Kleine und das Große würdigen wolle. Da hat er bis zuletzt Wort gehalten. Seine Bücher sind nicht als „Sightseeingtour zu den historischen Monumentalereignissen“ angelegt, wie es dann im Band zur Lutherzeit heißt, „sondern als Naherkundung“ der jeweiligen Zeit. Dass es „fragwürdig“ erscheinen mag, Perioden der Geschichten mit dem Namen einer Person zu bezeichnen, führte er im Band zur Bachzeit aus. Und er hält dagegen, dass abstrakte Begriffe wie etwa Barock „kaum genauer“ seien.
Nun also ist das Quartett komplett. Der vierte Band bestätigt die hohe Qualität, die bislang zu genießen war. Abermals gelingt es dem Autor, materialsatt und lebendig die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. „Wie viel sich daraus lernen lässt, sei dahingestellt.“ schreibt er, denn die „Historia“ sei „eine unberechenbare Lehrerin“. Das mag schon sein. Uns allerdings genügt es fürs Erste, dass die Lektüre ein bereicherndes Vergnügen ist.
Martin Oehlen
Bruno Preisendörfer: „Als Deutschland erstmals einig wurde – Reise in die Bismarckzeit“, Galiani Berlin, 448 Seiten, 25 Euro. E-Book: 22,99 Euro.
