Der Kühlschrank des Toreros: José F. A. Oliver, neuer Träger des Heinrich-Böll-Preises der Stadt Köln, über Dichtung und Doppelpunkt

José F. A. Oliver mit Moderatorin Beate Tröger in der Zentralbibliothek. Foto: Bücheratlas

Der Stier war schuld. An ihm lag es, dass Hausach Heimat wurde. In der Gemeinde im Kinzigtal, irgendwo zwischen Stuttgart und Freiburg gelegen, lebt José F. A. Oliver (60), dem an diesem Freitag der Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln verliehen wird. Unmittelbar vor der Festivität im Rathaus erzählte der Sohn andalusischer Eltern in der Zentralbibliothek am Josef-Haubrich-Hof, auf welche Weise es ihn in den Schwarzwald verschlagen hat. Vielmehr ist es die Geschichte, die der Vater seinen vier Kindern in Variationen erzählt hat, sobald die Frage aufkam: Warum bist Du als Gastarbeiter nach Hausach gezogen?

Unter Erzählerinnen und Erzählern

Die Urversion geht so: Der Vater war ein Torero, der eines Tages in einer Arena im Süden Spaniens einen sehr mächtigen Stier auf sich zukommen sah. Derart Furcht einflößend war der Stier, dass der Vater als Torero Reißaus nahm. Er lief und lief und lief – bis er in Hausach völlig außer Atem war und dort stehenblieb.

Der Vater war ein großer Erzähler. Die Mutter kaum minder. Und José F. A. Oliver ist es ganz gewiss erst recht. Die Art, in der er eineinhalb Stunden lang das Publikum mit Einsichten, Anekdoten und Gedichten versorgte, war beste Unterhaltung. Allemal war Moderatorin Beate Tröger bemüht, den beredten Gast immer wieder auf die verabredete Gesprächslinie zurückzuführen. Weil dann doch einiges auf der Strecke blieb, las Oliver zum Abschluss eben nicht nur das eine Gedicht, um das er gebeten worden war, sondern schob noch zwei Gedichte hinterher. Wie gesagt: ein großes Vergnügen.

Das Kleinod in der Küche

Eröffnet wurde der Abend mit der Kurzgeschichte „Vaterskizze – meinen Kühlschrank betrachtend“. Die wichtigste Errungenschaft nach dem Umzug in den Schwarzwald sei der Kühlschrank gewesen, erzählt Oliver. Der Vater sei ein Gastarbeiter gewesen, der gerne Gäste empfing. Dazu gehörte dann eben auch, dass er die Gäste großzügig beköstigte. Der Kühlschrank sei das Gleichnis für ein herzliches Willkommen gewesen. Jede Wohnungsführung erreichte ihren Höhepunkt in der Küche mit dem prall gefüllten Kühlschrank als Kleinod und Lebensmittelpunkt.   

Was an diesem Abend auch deutlich wurde: José F. A. Oliver ist nicht nur ein guter Autor, sondern auch ein großer Vortragskünstler. Das machte er gleich mit dem ersten Gedicht deutlich. So präsentierte er „Cervantes lebt in Köln“, bei dem Sancho Panza mit der Videokamera vor dem Dom steht, als kleines Sprechtheater.

Wenn es „over“ ist mit dem „Lover“

Geschrieben habe er „schon immer“, sagte Oliver. Da habe es von Anfang an eine „Komplizenschaft“ gegeben. Und noch heute stehe er zu den Gedichten, die er mit 16 Jahren verfasst habe. Denn ohne diese hätte es die folgenden nicht gegeben. Die erste Veröffentlichung war dann der Band „Auf-Bruch“, der auf Einladung von Rafik Schami im Verlag „Das Arabische Buch“ erschienen ist. Was den arabischen Akzent anbelangt, so genügte für die Aufnahme die Tatsache, dass Olivers Eltern aus Andalusien stammten, das lange Zeit unter arabischem Einfluss gestanden hatte.  

Der Trennstrich im Titel „Auf-Bruch“ ist eine Eigenart, die sich der Künstler bewahrt hat. Seine Gedichte sind auch graphische Attraktionen. „Du musst auf die Wörter schauen“, sagte er, „dann erzählen sie dir eine Geschichte.“ Da setzte man beim Wort Sterben einen Doppelpunkt hinter das T – und schon habe man die ganze Misere der Erben vor Augen. Oder wie steht es um den englischen Lover? Wenn der Doppelpunkt hinter dem L auftaucht, bleibt nur noch Over übrig. „Da wirst du verrückt!“, meinte der Autor zu solcher Wortseziererei. „Da kannst du nicht mehr Autofahren – also, ich fahre hinter jedem Lastwagen her und lese, was da steht.“ Beziehungsweise stehen könnte.

Schreibkrisen kennt er nicht

Der Weg vom Gedanken zum Gedicht ist bei Oliver im Prinzip stets derselbe. Zunächst einmal müsse ihn etwas berühren, sagte er. Dann fängt das Rad an sich zu drehen. Aus der Notiz werde ein Notat, aus dem Notat eine Verdichtung und daraus schließlich das Gedicht. Eine Schreibkrise kenne er nicht, versicherte der Autor entschieden. Er sei immerzu ein Dichter – auch wenn er frühstücke oder mit der Bahn fahre. „Entweder bin ich im Wort oder im Nichtwort.“

José F. A. Oliver, in zwei Sprachen aufgewachsen, ist aber noch einiges mehr. In seinem Geburtsort Hausach, dessen Ehrenbürger er mittlerweile ist, hat er ein Literaturfestival gegründet, das im kommenden Jahr sein 25-jähriges Bestehen feiern wird. In Kairo war er Stadtschreiber, lehrte in Cambridge (USA) und arbeitete im Hochland von Peru. Dort lernte er Quechua und weiß nun, wie in der indigenen Sprache die Vokabel Gold umschrieben wird: „Von der Sonne geweinte Tränen“. Das passe ganz gut, meinte er, weil die Formulierung an das Leid erinnere, das den Völkern in Mittel- und Südamerika von den europäischen Eroberern auf der Suche nach Gold zugefügt worden sei.

Man sieht: Es bedarf nur eines Stichworts – und schon findet José F. A. Oliver ins Erzählen. Ein wahrhaft anregender Abend in der Zentralbibliothek.

Martin Oehlen

Die Jury des Heinrich-Böll-Preises sagt über den José F. A. Oliver, er begreife Lyrik als „Seinsform und damit Literatur als grundlegend für die Existenz, weil sie es bei aller erzählerischer Stringenz ermöglicht, die poetische Vieldeutigkeit aufrecht zu erhalten und so das Nebeneinander von Sichtweisen bejaht.“ Das aufklärerische Moment in seiner Literatur, die Auseinandersetzung mit Migration, mit Fragen der Integration, mit der Sprache als trennendem und verbindendem Element, stehe, so die Jury, unverkennbar in der Tradition des Denkens Heinrich Bölls.

In der Kölner Zentralbibliothek befindet sich das Heinrich-Böll-Archiv. Zudem ist hier das von Gabriele Ewenz betreute Literatur-in-Köln-Archiv untergebracht. Auch ist in dem Gebäude eine Rekonstruktion des Arbeitszimmers von Böll zu sehen – einen Beitrag gibt es dazu auf diesem Blog HIER.

3 Gedanken zu “Der Kühlschrank des Toreros: José F. A. Oliver, neuer Träger des Heinrich-Böll-Preises der Stadt Köln, über Dichtung und Doppelpunkt

  1. Pingback: Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln an José Oliver (27. November 2021, Stadtbücherei Köln) – Beate Tröger

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