Literatur im Schaufenster: „Take away“, die neue Reihe im Literaturhaus Köln, mit herrlichen Geständnissen zu Stadtlust und Stadtfrust

Das ist die Tonprobe mit Jan Brandt (links) und Tilman Strasser im Schaufenster von Arabella Braut- und Abendmoden. Das Foto von der Veranstaltung selbst gibt es weiter unten. Foto: Bücheratlas

Das Literaturhaus Köln stellt die Literatur ins Schaufenster. Gleich an drei Tagen im November gab es Gespräche und Lesungen „im Stadtraum über den Stadtraum“. Da präsentierten sich Autorinnen und Autoren im Galeria Kaufhof, in einem leerstehenden Verkaufsraum in der Hohe Straße und bei Arabella Braut- und Abendmoden am Eigelstein. Das Publikum bleibt bei alledem draußen vor der Schaufensterscheibe (was nicht zuletzt ziemlich coronakonform ist). Wer es eilig hat, kann sich die Auftritte zu einem günstigeren Zeitpunkt im Netz anhören. Svenja Reiner und Tilman Strasser moderierten diese Begegnungen erfrischend souverän. Was es bei „Take away – Literatur unterwegs“ zu hören gab?

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Galeria Kaufhof: Das Unheimliche und die Mülheimer Eisdielen

Kathrin Röggla („Nachtsendung: Unheimliche Geschichten“) bemerkte bei der Premiere, dass dies „eine der interessantesten Bühnen“ sei, die sie je erklimmen durfte. „Es ist ja lustig, wenn eine Glaswand zwischen einem und dem Publikum ist“, versicherte sie. „Ich komme mir vor wie eine Schaufensterpuppe. Aber Puppen sind ja was Unheimliches, wie wir wissen, deshalb will ich mein Bestes tun, und dieser Unheimlichkeit gerecht werden.“ Dazu las sie die Texte „Betongold“ und „Überläufer“, denen durchaus beklemmende Aspekte eigen sind. Andererseits haben wir uns mittlerweile recht gut ans Unheimliche gewöhnt. Röggla selbst verwies darauf, dass wir „so merkwürdige Dinge“ wie „Übersterblichkeit“ in unsere Münder nehmen. Und sie blickte tendenziell unsicher in die Zukunft: „Ich bin sehr gespannt, wie wir die Welt und unsere Gesellschaft in den nächsten fünf Jahren organisieren.“

Juliana Kálnay („Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“) ist in Köln aufgewachsen und nach 20 Jahren zurückgekehrt. Was sie festgestellt hat: Zwar habe sich in ihrem Leben zwischenzeitlich viel getan, aber nicht in der Stadt. „Als ich das erste Mal wieder in Mülheim war, fand ich das total beeindruckend, denn es wirkte, als wäre ich nie fortgewesen.“ Den Beleg lieferte sie sogleich nach: „Alle vier Eisdielen meiner Kindheit sind noch da.“ Sie stellte sodann ihren Text „Die Stadt ist nicht die Stadt – 80 Feststellungen“ vor. Der ist mit Blick auf Bielefeld geschrieben worden und beginnt damit, dass es dort immerzu regne. Aber eben nicht nur dort. Bitte weiterlesen!

Schildergasse: Puszta-Hütte, Waldeinsamkeit und die Eyeshadow Base

Bei Dauerregen ging es in die zweite Runde. Da strömte das Publikum nicht zwangsläufig in Scharen herbei, um in der Nässe auf der Straße zu stehen und in einen leeren, also nur mit zwei Personen besetzten Raum zu blicken. Bastian Schneider („Paris im Titel“) meinte, dass er selbstverständlich auch unter solch unwirtlichen Umständen stehenbleiben und zuschauen würde: „Mich interessieren merkwürdige Menschen in leerstehenden Läden rein des Phänomens wegen.“ Teil des Phänomens war in diesem Fall, dass Schneider sich zur Großstadt bekannte. Er sei fast völlig frei von Landfluchtgedanken: „Ich brauche doch ziemlich viel Glas, Stahl und Beton – das kann mir die Waldeinsamkeit nicht ersetzen.“

Auf Enno Stahl („Sanierungsgebiete“) wirkte das Ambiente im hallenden Leerraum „wahnsinnig gemütlich“. Das Wetter spiele auch mit, wie er sagte. Also, alles bestens. Stahl hat 25 Jahre in Köln gelebt und ist 2008 nach Holzheim gezogen, das zu Neuß gehört, aber Wert auf den Eigennamen legt. Keine Sekunde habe er diesen Schritt bereut. Es liege wohl an der Kölner Tiefebene, dass man in der Stadt nie über den Tellerrand hinausschaue. Auch er selbst nicht. Erst nachdem er weggezogen sei, habe er begriffen, dass er mit seinen Aktivitäten auch in Hamburg oder Berlin landen könne. Einen Lieblingsort hat Enno Stahl in Köln gleichwohl. Da wolle er nach dem Auftritt mal wieder vorbeischauen: „Die Puszta-Hütte“. Weil da alle nur Gulasch essen, frage der Wirt lediglich: „Noch was zu trinken dazu?“. Wenn sich der Gast dann für ein Kölsch entscheide, gehe die Bestellung ab: „Melanie – eins, eins!“

Svenja Reiner wechselte an diesem Novemberregentag aus der Rolle der Moderatorin in die der Autorin. Los ging es mit der Klage, wie schwierig es sei, in der Stadt eine öffentliche Toilette zu finden – zumal dann, wenn man mit einem Hund an der Leine unterwegs sei. Svenja Reiner, die eine Geschichte aus der Anthologie „Flexen“ las, bekannte sich als emsige Kaufhaus-Besucherin. Unterwegs sei sie weniger um zu kaufen denn um zu schauen. Gut, die Eyeshadow Base musste sein. Denn die sei ein Hit: „Mein Eyeliner ist nie wieder verschmiert seitdem.“ Ja, sie flexe gerne durch die Innenstadt, aber auch „durch mein Rewe“. Hier das ultimative Bekenntnis: „Ich finde alle Regale toll. Der Kapitalismus hat mich fest in seinem Griff.“

Arabella Braut- und Abendmoden: Erst Willy Brandt, dann wilde Tiere

Das Geschäft ruht nicht. Während sich im Hintergrund eine Heiratswillige mit einem Beratungsteam in die festlichen Roben vertieft, schildert der gebürtige Ostfriese und zeitweilige Kölner Jan Brandt („Ein Haus auf dem Land“) seine Köln-Erfahrungen. Oha! Da findet er nicht viel Erbauliches in der verkachelten Stadt. Zumal die Zimmersuche, die er in seiner dramolettigen Lesung mit Tilman Strasser schilderte, ist gleichermaßen gruselig wie bizarr und komisch. Sie scheint sich im Großen und Ganzen genau so absurd-abschreckend zugetragen zu haben. Jedenfalls bekannte Jan Brandt im Gespräch, am Ende tatsächlich bei der ausländerfeindlichen Dame eingezogen zu sein, die von ihm hatte wissen wollen, ob er womöglich mit Willy Brandt verwandt sei. Nein? Gut. Die Antwort passte – denn andernfalls, sagte sie, würde er die Wohnung nicht bekommen. Zum Abschluss des Mietvertragsgespräch gab es dann von ihr noch ein strenges „Tschö mit Ö“. Immerhin – auf Besuch kommt Jan Brandt gerne in Köln vorbei. Dann und wann.

Jan Brandt (rechts) und Tilman Strasser im Schaufenster-Gespräch. Stimmt – hier spiegelt sich einiges. Das kommt davon, wenn eine Glasscheibe im Wege steht. Foto: Bücheratlas

Zum Grande Finale der „Take away“-Reihe übernahm Jan Brandt die Moderation. Nun befragte er den Kollegen David Wagner („Der vergessliche Riese“), der sich als großer Befürworter des Lebens in der Stadt präsentierte. Da nehme man doch nur die Beweglichkeit als Beispiel. Wer auf dem Land wohne, meinte Wagner, müsse erst einmal ans Laufen kommen. In der Stadt hingegen sei „das Gehen die natürliche Fortbewegung“. Außerdem lebten mittlerweile viel mehr Tiere in der Stadt als auf dem Land. In Berlin sogar Wölfe. Und die Vögel tirilierten im Großstadtdschungel lauter und schöner. Was ihn allerdings stört, sind die Autos. Jan Brandt geht davon aus, dass David Wagner bald schon mit dem großen Roman oder dem großen Essay über den Autohass aufwarten wird.

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Damit ist die erste Staffel von „Take away – Literatur unterwegs“ an ihr Ende gelangt. Doch Bettina Fischer, die Leiterin des Literaturhaus Köln, hofft sehr, dass es nach der Winterpause weitergeht. Voraussetzung dafür ist die Fortsetzung der Förderung, die aktuell die Kunststiftung NRW, Neustart Kultur, die Stadt Köln und andere mehr sichergestellt haben. Was nichts als willkommen wäre. Denn jeder „Take away“-Auftritt hatte seine Reize. Und amüsant ging es fast immer zu bei dieser Literatur on tour.  

Martin Oehlen

Die bislang sieben Veranstaltungen sind im Stream nachzuhören unter http://www.takeaway-literatur.de

4 Gedanken zu “Literatur im Schaufenster: „Take away“, die neue Reihe im Literaturhaus Köln, mit herrlichen Geständnissen zu Stadtlust und Stadtfrust

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