
Walter ist tot. In der Silvesternacht hat ihm seine Frau den Schädel eingeschlagen. „Sie hätte das Gewehr nehmen können, entschied sich aber für die Axt. Hilde ließ sie auf seinen Kopf niedersausen, als wollte sie ein Holzscheit spalten.“ Anschließend amüsiert sich die Mörderin bei der Silvesterfeier der Nachbarn und verschwindet gegen Morgen im Dunkel der Nacht.
Walter war ein Ekel
Niemand verdenkt der verhärmten Endfünfzigerin die böse Tat. Walter war ein Ekel, das wusste jeder hier in dem kleinen, ostdeutschen Dorf – ein jähzorniger, herrschsüchtiger und notorisch schlechtgelaunter Mann. Nur Walter selber war sich über seine dunklen Seiten nicht im Klaren. Erst nach seinem Tod lernt er sich selber kennen – ein Geist, der unbemerkt von den Lebenden in einer Parallelwelt auf dem Friedhof des Ortes wohnt.
Angenehm ist nicht, was er von den anderen Toten über sich hört. „Hilde hat oft geschrieben, sagt die Verrückte, dich hat es nur nicht interessiert. Einmal hat sie ein Gedicht für dich liegen lassen. Du hast es wie einen Kassenbon zerknüllt und in den Eimer geworfen, sagt Pede. Du warst wirklich ein Stinkstiefel, sagt die Verrückte. Was hätte es dir bedeutet, wenn du das Gedicht gelesen hättest, und vor allem, was hätte es dich gekostet?“
Was macht das Leben aus?
Angelika Klüssendorfs vielschichtiger, lebenskluger Roman „Vierunddreißigster September“ ist allerdings alles andere als eine reine Geistergeschichte. Virtuos wechselt die mehrfach preisgekrönte Autorin von Kapitel zu Kapitel die Perspektive und lässt mal die Lebenden, mal die Toten zu Wort kommen. Was macht das Leben aus, was war, was bin ich für ein Mensch, wer möchte ich sein? Denn egal, ob aus Fleisch und Blut oder von eher flüchtiger Konsistenz – die Fragen an das Leben ähneln sich hüben wie drüben.
Die Autorin schildert knapp und prägnant eine Welt, in der die Zeit nach dem Mauerfall stehengeblieben ist. Viele Bewohnerinnen und Bewohner haben das namenlose kleine Dorf nahe der ehemaligen innerdeutschen Grenze schon vor Jahren verlassen, der neue Spielplatz ist mangels Kinder unbenutzt, und wenn die fesche Branka demnächst nach Hamburg zieht, wird die letzte Kneipe des Ortes dichtmachen.
„Der verfluchte Fall der Mauer“
Wer bleibt, der gehört zu den Verlierern und wird es wohl nicht mehr packen in diesem Leben. Heinrich zum Beispiel hat seinen Ein-Euro-Job verloren. Jetzt säuft er sich grollend durch den Rest seines Lebens. Oder Doris. Sie trauert der Zeit nach, als ihr Mann noch bei der Stasi war und sie dreireihige Perlenketten wie Jackie Kennedy trug. „Nur der verfluchte Fall der Mauer, der war mit dem guten Leben unvereinbar gewesen.“
Leo Panzer ist durch die Prüfung zum Kindergärtner gefallen, und es ist anzunehmend, dass er kein zweites Mal antreten wird. „Wir könnten was erfinden“, philosophieren er und sein Freund Eisenalex beim soundsovielten Bier. Einen neuen Tag zum Beispiel, den vierunddreißigsten September. „Was machen wir an dem Tag? Alles anders. Und was?“
„Du bist zerbröckelt wie das Dorf“
Der Prototyp des Losers jedoch ist Walter. Früher, vor der Wende, sei er ein Netter gewesen, erzählen die Toten. „Nach dem Mauerfall bist du dann stecken geblieben, wie so viele, die nicht zugeben konnten, dass ihr Lebenswerk umsonst war, all die Jahre. Du bist zerbröckelt wie das Dorf.“
Dem Toten fährt bei solchen Worten der Schreck in die Glieder, sein Begreifen kommt einen Axthieb zu spät. „Das klingt nicht nach einem gelebten Leben.“ Und er möchte den Menschen im Dorf zurufen: „Sterbt nicht aus Überdruss. Es ist wie ein doppelter Tod. Erst das wie tot geführte Leben, dann der Tod selbst, der euch nichts von diesem Schrecken nimmt.“ Schade, dass ihn niemand hören kann.
Petra Pluwatsch
Angelika Klüssendorf: „Vierunddreißigster September“, Piper, 224 Seiten, 22 Euro. E-Book: 18,99 Euro.
