
Was Ilse Aichinger (1921-2016) ein Leben lang an der Seefahrt reizte? Diese Frage hat sich die österreichische Schriftstellerin einmal selbst gestellt und auch beantwortet, nämlich in den Nuller Jahren, als sie schon über 80 Jahre alt war: „Möglicherweise hing die Affinität zu Schiffen mit ihrer Chance zu versinken zusammen, die mir jede Existenzform begreiflicher machte.“ Solches Versinken und Verschwinden sei von Anfang an ein Topos in ihrem Werk gewesen, erläutern nun Marie Luise Knott und Uljana Wolf in dem von ihnen herausgegebenen Band „Die Hochsee der Ilse Aichinger. Ein unglaubwürdiger Reiseführer zum 100. Geburtstag“.
„Unzumutbarkeiten der Existenz“
Es falle nicht schwer, schreiben Knott und Wolf, die „thematischen Eisberge des Versinkens in Aichingers Werk“ auszuloten: die Deportation und Ermordung ihrer Angehörigen im Dritten Reich, die Trennung von der Zwillingsschwester Helga, der Verlust des Ehemannes Günter Eich, des Sohns Clemens Eich und des späten Gefährten Richard Reichensberger. Zu diesen „Unzumutbarkeiten der Existenz“ gebe es „Gegenbewegungen in der Sprache, die Untergänge sichtbar machen und sie damit dem Verschwinden entziehen“. Da wird das Schreiben zum Rettungsboot.
Der sorgsam gestaltete, rundum schöne, gleichwohl schmale Band aus dem Wunderhorn Verlag erscheint in der Reihe „Zwiesprachen“ der Stiftung Lyrik Kabinett. Er begleitet die gleichnamige Ausstellung im Literarischen Colloquium Berlin, die von Knott und Wolf kuratiert worden ist und auf die wir bereits zum Geburtstag am 1. November eingegangen sind (HIER). Auf einige der dort ausgestellten, zumeist aus dem Deutschen Literaturarchiv Marbach stammenden „Fundstücke“ reagieren Autorinnen und Autoren in diesem Begleitbuch.
„Dem Untergang immer nah“
So blickt Ilma Rakusa auf ein Typoskript-Blatt zu „Die Hochsee aus dem Ghetto“ und schreibt: „Aichinger, Ilse. Knapp davongekommen, doch dem Untergang immer nah. Ihr Ohr gehörte den Verlorenen und Verqueren, den Verschollenen und Unbewehrten. Den Stammlern, die sich die Welt neu zusammenbuchstabierten. Und die der größeren Hoffnung nachhingen: Der Himmel kann nicht weit sein. Das Fest ist hier. Hier ist es. Schau und lies.“
Marcel Beyer greift zu einer Schallplatte mit Shanties, die Ilse Aichinger gehörte und auf der „Rolling Home“ nur einer von vielen Klassikern ist. Dazu stellt er noch das Gedicht „Cutty Sark“, das Günter Eich zum Geburtstag im Jahre 1968 „nur für Ilse“ geschrieben hat. In seinem herrlich die Assoziationen flirren lassenden Text geht Beyer auch auf den Wohnort der Eheleute in Großgmain bei Salzburg ein: „Schon allein unter sprachlichem Gesichtspunkt habe ich mich immer gefragt, was die Familie Aichinger-Eich dazu gebracht haben könnte, in eine Schmugglergegend namens Flachgau zu ziehen, wo Ilse Aichinger nach dem Tod von Günter Eich noch lange bleiben wird. »Zwanzig Jahre es in Großgmain auszuhalten, ohne Kino«, wundert sie sich in ihrem achtzigsten Lebensjahr.“
„Queen Mary“ muss um die Bojen rum
Christian Hawkey seziert derweil das Geduldspiel „Queen Mary“ (eine Abbildung hatten wir schon zu Wochenbeginn HIER im Blog), das Ilse Aichinger gehört hat und sich heute im Privatbesitz von Mirjam Eich befindet. In seinem Beitrag „Ilse in Puzzleland“ verweist er darauf, dass dieses Spiel, bei dem ein Ozeandampfer an drei wackeligen Bojen vorbeigeführt werden muss, Parallelen zum Schreiben aufweise. Da wie dort gehe es um Unsicherheit, um Improvisation und um das Gefühl, ein Problem oder eine Situation zu bearbeiten. Dass Aichinger die Sprache kippe wie das smartphongroße Geduldsspiel in der Hand, ist eine finale Einsicht, die er dem „Queen Mary“-Spiel abgerungen hat.
Weitere Auftritte gibt es von
- Marica Bodrožić mit dem Gedichttyposkript „Du Kleine“,
- Yevgeniy Breyger mit einem handschriftlichen Entwurf zu „Humphrey Bogart und die Titanic“,
- Esther Kinsky mit dem handschriftlichen Entwurf einer „Unglaubwürdigen Reise“ auf rotem Umschlag,
- Dagmara Kraus mit einem Wort-Zerlegespiel auf Kellnerblock,
- Don Mee Choi mit einem Glasnegativ der Aichinger-Zwillinge,
- Yōko Tawada mit einem Typoskript-Blatt von „Meine Sprache und ich“ und
- Peter Waterhouse mit einer Kinokarte mit handschriftlichen Namenslisten.
Texte auf Kellnerblock und Kinokarte
Ilse Aichinger hatte – wie schon diese Liste mit Umschlag, Kellnerblock und Kinokarte deutlich macht – ein besonderes Verhältnis zu Schreibunterlagen. Auch hier gebe es eine höchst dynamische Beziehung zwischen Verschwinden und Überleben, halten die Herausgeberinnen fest. „Ein Großteil des Werks entsteht auf Rückseiten oder abseitigen Blättern: von den Rückseiten des Evangelischen Pressedienstes (epd), auf dem Aichinger, wie auch Günter Eich, ihre Typoskripte nahezu randlos, nahtlos beschrieb; bis hin zum Spätwerk nach dem Umzug nach Wien 1988, das ohne Schreibmaschine und Computer, nur auf im Kaffeehaus verfügbaren Zetteln, Postkarten, Rätselheften, Kellnerblöcken entstand.“
Die Nutzung solch „schlechter“ Blätter entspreche Aichingers subversive Poetik, die sich weigere, „die besseren Wörter“ zu gebrauchen. „Das Material selbst ist Rettungsboot“, heißt es, „und wird zugleich durch ihr Schreiben gerettet.“
Martin Oehlen
Auf diesem Blog findet sich ein Beitrag zum 100. Geburtstag von Ilse Aichinger – HIER.
Der Band „Die Hochsee der Ilse Aichinger“ ist am 2. November 2021 in der Stiftung Lyrik Kabinett in München vorgestellt worden. Ein Livestream der Veranstaltung soll „zeitnah“ auf http://www.dichterlesen.net und dem youtube-Kanal des Lyrik Kabinetts zur Verfügung gestellt werden.
Das Werk der Ilse Aichinger erscheint im S. Fischer Verlag. Die schön gestaltete Werkausgabe in der Taschenbuch-Kassette ist vorneweg zu empfehlen.
Die Ausstellung „Die Hochsee der Ilse Aichinger“ im Literarischen Colloquium Berlin in Berlin, Am Sandwerder 5, ist bis zum 12. Februar 2022 zu sehen.
Marie Luise Knott und Uljana Wolf (Hrsg.): „Die Hochsee der Ilse Aichinger – Ein unglaubwürdiger Reiseführer zum 100. Geburtstag“, Verlag Das Wunderhorn, 32 Seiten, 18 Euro.
