
Wallace, Doktorand der Biochemie „in einer Stadt im Mittleren Westen“, macht sich keine Illusionen. Er wird „immer ungenügend sein.“ Egal, wie sehr sie seine Freunde ihn mögen und wie rücksichtsvoll sie angeblich mit ihm umgehen. Denn Wallace ist schwarz. Schwarz, schwul und aus schwierigen Verhältnissen kommend. Ein Underdog unter privilegierten Weißen, die nicht nachvollziehen können, wie es ist, „so auszusehen, wie sonst nur die Hausmeister und Putzkräfte aussehen. Wie es ist, so misstrauisch beäugt zu werden“. Erst recht wollen Weiße nicht hören, dass sie rassistisch denken und handeln. „Als bezweifelten sie, dass man die Wahrheit sagt, als könnten sie an der bloßen Form einer Aussage erkennen, ob sie rassistisch ist oder nicht. Und natürlich vertrauen sie ihrem eigenen Urteilsvermögen bedingungslos.“
Schattenschmerzen lassen sich nicht wegatmen
Brandon Taylors hochgelobter Debütroman „Real Life“, 2020 für den Booker Prize nominiert, ist eine bittere Abrechnung mit dem weißen Amerika. Rassismus, das weiß der afroamerikanische Autor aus eigener Erfahrung, hat viele Facetten, und er verursacht bei den Betroffenen einen „Schattenschmerz“, der sich nicht wegatmen lässt wie ein vorübergehendes Engegefühl in der Brust. „Dieser Mangel an Weiß, an Konformität“ macht sie aus ihrer Sicht zu Menschen zweiter Klasse, „denn dieses Defizit kann niemand je überwinden“.
Doch „Real Life“ ist weitaus mehr als ein Buch über Rassismus. Es erzählt auch davon, was es heißt, queer zu sein, jung zu sein. An sich selber und am eigenen Lebensentwurf zu zweifeln. Ein Wochenende lang begleitet Taylor seinen Protagonisten Wallace, dem der einige Wochen zurückliegende Tod seines Vaters trotz gegenteiliger Beteuerungen schwer zu schaffen macht.
Versuchsanordnung wurde vereunreinigt
Erinnerungen an seine Kindheit in bitterer Armut in Alabama kommen hoch, an den Missbrauch durch einen Freund der Eltern und einen Nachbarsjungen, an die trinkende Mutter, die mit Alkohol das Scheitern ihrer Ehe kompensiert. Gleichzeitig hat Wallace mit vielen anderen Problemen zu kämpfen. Seine Versuchsanordnung im Labor ist vermutlich durch seine Widersacherin Dana verunreinigt worden, die Arbeit von Wochen nur noch Makulatur. Seine Doktormutter legt ihm nahe, seine Zukunftspläne zu überdenken. Und – er hat eine Affäre mit seinem Freund und Kommilitonen Miller begonnen, der anders als er selber keine homosexuellen Erfahrungen hat, dafür aber eine Menge eigene Probleme.
Auch weiße Freunde von Wallace leiden unter Zukunftsangst und Beziehungsstress. Schon bald werden sie die Universität verlassen und hinausgehen in ein Leben, dessen Spielregeln sie erst noch lernen müssen. Taylor, der selber Biochemie studiert hat, ehe er sich dem Schreiben zuwandte, schildert eine enge Gemeinschaft von Freunden, die sich trotz aller Vertrautheit und körperlicher Nähe seltsam fremd bleiben.
Verletzlichkeit hinter cooler Fassade
Vor allem Wallace und Miller sind verletzliche Seelen, die sich hinter einer aufgesetzten Coolness verstecken und einander nicht trauen, so gern sie das auch möchten. Ihre Unfähigkeit, sich auf andere Menschen einzulassen, entlädt sich schließlich in roher Gewalt und lässt sie bestürzt und ratlos zurück. „Den Blick auf Wallace gerichtet, wickelt sich Miller das Handtuch um die Taille, und da ist so etwas wie ein Lächeln auf seinen Lippen, aber es verliert sich sofort wieder, wird trauriger oder zumindest nach innen gekehrt, dunkler.“
„Real Life“ hat den Charakter einer Momentaufnahme. Hier werden keinerlei Lösungen angeboten, wird kein Happy End in Aussicht gestellt. Doch gerade das ist eine der Stärken dieses ungewöhnlichen Romans. Er schildert unaufgeregt und schnörkellos, was ist. Nicht mehr, nicht weniger.
Petra Pluwatsch
Brandon Taylor: „Real Life“, dt. von Eva Bonné, Piper, 350 Seiten, 22 Euro. E-Book: 18,99 Euro.

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