
Letzter Lesetag bei der 45. Ausgabe des Bachmannwettbewerbs in Klagenfurt. Gleich die erste Lesung mit Dana Vowinckel erinnert daran, was für ein Druck auf den Autorinnen und Autoren liegt. Sie sind nach ihrer jeweiligen Lesung dem Schwall der kritischen Stimmen, dem Lob und Tadel schutzlos ausgeliefert. Zwar sind sie live zugeschaltet, doch mehr als ein paar Bilder gibt es nicht von ihnen. Prinzipiell ist eine finale Wortmeldung möglich, aber in dieser Saison nicht üblich. So sehen wir, wie Dana Vowinckel, 1996 geboren und damit dem jüngsten Jahrgang des Wettbewerbs zugehörig, der ersten Kritik entgegenfiebert. Wie sie angespannt lauscht. Und dann erlöst aufatmet, als das Lob erkennbar wird. Dass dieses Lob dann vielfach geteilt wird, trotz kleinerer Einwände, ist für die Autorin umso schöner. Überwiegend Positives gibt es anschließend auch für die weiteren Auftretenden. Sieht nach einer guten Saison aus.
Die Jury bietet an diesem dritten Wettbewerbstag abermals ein Füllhorn an literarischen und cineastischen Querverweisen (Polgar, Thomas Mann, Altes Testament, Housseini, „Twin Peaks“, Kracht, Ingo Schulze, Lutz Seiler, Higshmith, Yanagihara, Benjamin – ach, you name it. Die Stimmungslage ist vergleichsweise harmonisch. Anders als an den Tagen zuvor (siehe dort, also auf diesem Blog). Hier also nur ein Dramolettchen!
Philipp Tingler unterbricht die Ausführungen der Jury-Vorsitzenden Insa Wilke: „Seminar!“
Insa Wilke: „Ist mir egal. Ist wichtig.“
Philipp Tingler: „Langweilig!“
Insa Wilke: „Ne, gar nicht!“
Klaus Kastberger: „Herr Tingler, gehen Sie doch schon mal raus und machen früher Mittagspause! Wir reden derweil hier noch weiter.“
Soviel zur Performance. Nun wieder – wie schon an den Vortagen – die Einstiegssätze aus den Lesungen. Die kompletten Beiträge gibt es auf bachmannpreis.orf.at . Die Preise folgen dann an diesem Sonntag. Wir bleiben dran.
Martin Oehlen
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Dana Vowinckel: „Gewässer im Ziplock“
1.
Einmal war er noch für Kiddusch geblieben, ein großes Abendessen nach dem Gebet am Freitagabend. Sie hatten ihn überreden müssen.
Er hatte am Kopfende gesessen, der Raum war völlig überfüllt gewesen, kaum genug Stühle hatte es gegeben für alle. Er hatte gesagt, dann wäre es wohl besser für ihn, gleich zu gehen, aber sie wollten, dass er blieb und am Kopfende saß, bei den Gabbaim. Sie hatten ihn beobachtet, dabei, wie er beim ersten angebotenen Wodka nickte, danach aber dankend ablehnte, wie er sorgfältig mit dem Plastikmesser und der Plastikgabel das Essen zerschnitt. Er sah ein bisschen zu groß aus für den Stuhl, auf dem er saß.
Timon Karl Kaleyta: „Mein Freund am See“
Das Starten des Motors bereitet Julian an diesem Morgen ein wenig mehr Mühe als sonst. Ich sehe ihm ganz aufmerksam dabei zu. Eigentlich hätte er dafür bloß den Schlüssel umzudrehen brauchen, aber weil ihm vor ein paar Tagen ein Fischotter irgendein Kabel durchgebissen hat, funktioniert die Zündung nicht mehr. Er steht nun am Heck seines kleinen Sportbootes und versucht, den Außenbordmotor durch ruckartiges Ziehen am Seilzug in Gang zu setzen. Das Boot schwankt unter seinen schlanken nackten Füßen, die oben drauf so ein bisschen gebräunt sind. Aber er steht sicher. Es sind Füße, die sehr gut zu meinem Freund Julian passen.
Nava Ebrahimi: „Der Cousin“
Das Foto seines Körpers bedeckt meterhoch die Fassade des Lincoln Center.
„Wie findest du es?“, fragt er mich.
„Wow“, sage ich. Ohne den Blick abzuwenden, steige ich aus dem Taxi. Der Wind hebt meinen Schal. „Nackt siehst du ja noch besser aus!“
Das Foto ist in Schwarz-Weiß, und er trägt nichts außer sehr kurzen, engen Shorts. Vor dem grauen Hintergrund hebt sich sein Körper ab wie eine Figur aus Silber, jeder einzelne Muskel klar und mühevoll herausgearbeitet. Ein Bein hat er angewinkelt, das andere ausgestreckt, gespitzt bis in den Fuß. Der Fuß berührt den Boden nicht. Mein Cousin scheint zu schweben und blickt besorgt zu uns herunter. Ganz leicht zeichnet sich eine Zornesfalte ab. Ein fehlbarer Engel am Tag des Jüngsten Gerichts.
„Wieso guckst du da so ernst?“, frage ich.
„Tanz ist eine ernste Angelegenheit“, antwortet er.
Nadine Schneider: „Quarz“
Vor dem Fenster ist es schwarz. Das Draußen ist nur der gespiegelte Lichtkegel der Schreibtischlampe, dahinter ein Gesicht, das nicht zu erkennen ist. Vielleicht ist der Himmel mittlerweile wolkenlos und voller Sterne. Vielleicht steht jemand auf der leeren Straße und starrt auf das Fenster, schaut herein. Man hätte nicht sehen können, ob dort jemand steht.
Am nächsten Morgen hat das Haus neue Schlieren. Das weißeste Haus in der Straße hat eine beschmutzte Fassade. Wer macht sich die Mühe, in der Wiese nebenan im nassen Dreck zu wühlen und so weit zu werfen, über den Zaun und den Vorgarten hinweg. „Das kann man streichen“, sagt mein Vater. Man brauche nur eine höhere Leiter, die fehle ohnehin, die müsse man besorgen. Dass so weit nur ein Mann werfen könne, meint meine Mutter. Mein Vater und ich zucken die Schultern.
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Auf diesem Blog
finden sich weitere Beiträge zu Tag 1 (HIER) und Tag 2 (HIER) des Wettbewerbs.
Nava Ebrahimi’s Text beeindruckte mich sehr, und ich bin froh, dass sie den ersten Preis gewonnen hat. Seit 2019 verfolge ich die interessanten Lesungen und Diskussionen des Bachmann Preises auf 3Sat. Ich fand es gut, dass zwei neue jüngere Jury Mitglieder dazu kamen, aber da verständlicherweise immer mehr Konkurrent/innen mit Migrationshintergrund teilnehmen, fände ich es richtig (und an der Zeit), wenn auch ein Mitglied mit Migrationshintergrund in der Jury zu sehen wäre.
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