Bei den Nenzen in Sibirien: Anna Nerkagis Nomadenroman „Weiße Rentierflechte“

Hoch im Norden Sibiriens, mitten im Weißen und nicht weit vom Pol entfernt, wohnen die Nenzen. Foto: Bücheratlas

Bei den Nenzen scheint die moderne Welt in sehr weiter Ferne zu wirbeln. Die Tradition spielt bei diesem kleinen Nomadenvolk in Nordsibirien eine große Rolle. Was wir darüber in Anna Nerkagis Roman „Weiße Rentierflechte“ erfahren, ist zuweilen nichts als erschütternd. Möglicherweise halten die Lenzen für ein Happy End, was uns schaudern lässt. Denn ganz am Ende des Romans sehen wir Mutter und Schwiegertochter nebeneinander in ihrem Zelt stehen, das bei den Nenzen Tschum genannt wird. Die Frauen haben die Augen niedergeschlagen, den „so tut es die Frau, wenn in den Tschum, der Mann, Familienoberhaupt und Gebieter eintritt.“ Nicht die grammatikalische Ungenauigkeit des Satzes irritiert, in dem der Artikel „das“ beim „Familienoberhaupt“ fehlt, sondern die Rückständigkeit der Geschlechterbeziehungen.

Aljoschka wird zur Hochzeit gedrängt

Der Verlag Faber & Faber wirbt für dieses Buch mit dem Hinweis, dass es „die erste Veröffentlichung einer nenzischen Autorin im deutschsprachigen Raum“ sei. Tatsächlich spielt das mündliche Erzählen bei den Nenzen eine große Rolle, nimmt man das wenige zur Kenntnis, was das Netz darüber hergibt. Umso schöner also, dass Anna Nergaki, selbst eine Nenzin und Gründerin einer Schule für Nenzen-Kinder, diese Geschichte zu Papier gebracht hat.

Aljoschka ist der junge Mann, der Kummer bereitet. Einst hatte er sich in die Tochter des alten Petko verliebt. Doch schon sieben Jahre lang wurde sie nicht mehr gesehen. Dennoch weigert sich Aljoschka, nach anderen Frauen Ausschau zu halten. Ein Nenze allerdings, so will es die Tradition, braucht eine Frau, die sich um ihn kümmert. Wenn der Mann von der Jagd komme, mit oder ohne Beute, dann müsse es im Tschum warm sein, sagt Aljoschkas Mutter. Das sei die wichtigste Aufgabe einer verheirateten Nenzin. Schließlich wird Aljoschka von allen Verwandten und Bekannten in die Mangel genommen – und heiratet eine Frau, die er kaum eines Blickes würdigt. Von Liebe keine Spur. Dass das Schicksal der Ehefrau in dieser Geschichte kaum ein mitleidendes Wort erfährt, ist verblüffend.

Stattdessen wird das Leid der Elterngeneration, überhaupt der Alten im Volk beklagt. All die Entbehrungen, die Armut und die Kälte – sie sind nicht das Problem. Schlimm hingegen ist die Einsamkeit. Schlimm auch, dass vieles von dem, was die eigene Lebensweise prägt, vor die Hunde geht. Die Kinder haben nicht mehr durchweg den Respekt vor der Kultur, die gleichsam auf dem Rücken der Rentiere daherkommt. Diese Tiere sind der kostbarste Besitz der Nenzen, auch unentbehrlich beim Transport der Habseligkeiten von einer Lagerstatt zur nächsten.

Moos in Säcken soll Reichtum vorgaukeln

Die Ausgabe wird ergänzt um einige Fotos von Sebastiao Salgado. Der Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels hatte einst die Nenzen in der Tundra für sein „Genesis“-Projekt aufgesucht. Überdies wird ein „kleines ABC des nenzischen Lebens“ angefügt, das Elementarteilchen aus Alltag, Historie und Schamanismus der rund 40.000 Angehörigen dieses Volkes anführt. Das ist nicht selten ergreifend. So lesen wir hier: „Manche Nenzen beladen ihre Schlitten mit Säcken, die mit getrocknetem Moos vollgestopft sind, um den Anschein zu erwecken, dass sie vermögend sind und viel besitzen.“

„Weiße Rentierflechte“, 1996 auf Russisch erschienen, ist ein ganz und gar eigenständiges Werk. Ein Roman als Zeitzeugnis, vorgelegt von einer Erzählerin, die in alle Seelen schauen kann.  Im Zentrum eine archaische Lebensweise, die aus der Zeit gefallen ist. Sie verströmt keinen exotischen Zauber, lockt nicht als Gegenentwurf zur digitalen Moderne. Gleichwohl nennen wir es ein Glück, dass uns Anna Nerkagi mit ihrem Roman diesen Blick in die Tschums der Nenzen ermöglicht. Eine willkommene Rarität.

Martin Oehlen

Anna Nerkagi: „Weiße Rentierflechte“, aus dem Russischen von Rolf Junghanns, mit Fotos von Sebastiao Salgado, Faber & Faber, 192 Seiten, 22 Euro.

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