
Den größten Triumph erlebte dieses Buch schon vor seiner Veröffentlichung. Denn im Jahr 2020 gewann Helga Schubert mit der titelgebenden Geschichte des Bandes „Vom Aufstehen“ den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagefurt. Dies war und ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Schubert siegte als bislang älteste Teilnehmerin in diesem spitzzüngigen Wettbewerb am Wörthersee. Und eine besondere Genugtuung war der Erfolg, da die Schriftstellerin schon einmal 40 Jahre zuvor auserkoren war, mit einem literarischen Text ins Klagenfurter Rennen zu gehen. Allerdings wurde ihr damals, im Jahre 1980, die Ausreise aus der DDR nach Österreich untersagt.
„Sie mussten es mir verbieten.“
Die Staatsmacht wollte nicht, dass Helga Schubert auf dieser prominenten Literaturbühne im Westen auftrat. Die Begründung lautete: „Durch den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb soll das derzeitig von feindlichen Kräften betriebene Weiterbestehen einer einheitlichen deutschsprachigen Literatur weiter hochgespielt werden.“ Auch das Mitwirken von Marcel Reich-Ranicki als Jury-Vorsitzender war ein rotes, vielmehr schwarzes Tuch, galt er doch als „berüchtigter Antikommunist“. Die Schriftstellerin wurde aufgefordert, den Reiseanatrag zurückzuziehen. Was Schubert nicht tat. „Sie mussten es mir verbieten.“
Helga Schubert, 1940 in Berlin geboren und in Mecklenburg zuhause, erzählt in diesem Band „ein Leben in Geschichten“. Dass es ihr eigenes Leben ist, steht außer Frage. Versuche der Fiktionalisierung sind nicht auszumachen. Sie selbst sagt über sich: „Ich bin ein Kriegskind, ein Flüchtlingskind, ein Kind der deutschen Teilung.“ Und das Kind einer Mutter, die für die Tochter zum „Problem“ wurde.
„Ich fürchte mich vor ihr“
Davon handelt die finale Geschichte. Eine 80 Jahre alte Frau zögert das Aufstehen hinaus, den Weg zum Bett des pflegebedürftigen Mannes im Nebenzimmer, und erinnert sich an ihre Mutter. Diese rühmte sich dreier Heldentaten. Erstens habe sie die Tochter nicht abgetrieben, obwohl der Vater das gewollt habe – und „für mich kamst du eigentlich auch unerwünscht.“ Dann – zweitens – habe sie die Tochter auf der Flucht von Hinterpommern nach Greifswald bis zur Erschöpfung im Kinderwagen geschoben. Und schließlich drittens: „Ich habe dich nicht vergiftet oder erschossen, als die Russen in Greifswald einmarschierten.“ An anderer Stelle, im Gespräch mit einer Pastorin, sagt die Erzählerin über die damals 97-järige Mutter: „Ich fürchte mich vor ihr.“
Den Vater, der 1941 als Soldat vor Moskau von einer Handgranate zerrissen wurde, kennt sie nur aus Erzählungen. Womöglich hätte er ihr die Liebe gegeben, die sie bei der Mutter nicht fand. Auch den Großvater mochte sie sehr, doch der starb bald, nachdem man ihn nach Kriegsende mit einem SS-Führer verwechselt hatte. Immerhin – die Großmutter war ihr herzlich zugetan.
Beistand und Ausweg
Helga Schubert hatte einiges zu ertragen. Die Kälte der Kindheit, des Krieges und der Diktatur. Zu DDR-Zeiten habe einmal die österreichische Kollegin Friederike Mayröcker bei ihr in Ostberlin auf dem Sofa gesessen und gesagt: „Keinen Tag könnte ich hier leben.“ Und die Erzählerin hat geantwortet: „Ich auch nicht.“ Aber sie musste bleiben „im kontrollierten Land“.
Die Schriftstellerin ist kein verbitterter, auch kein nachtragender Mensch. Das liegt zu keinem geringen Teil an ihrer religiösen Erdung. Im Protestantismus findet sie offenkundig Halt und Hoffnung. So ist Ostern für sie ein wichtiges Fest. Da will sie zum einen daran erinnert werden, dass man verraten werden kann. Und zum anderen daran, dass „es immer unvermuteten Beistand gibt und einen Ausweg.“
Zeiteinheiten Ulb und Schnitz
Selbst ein Staat, der sein Volk einsperrt, kommt einmal an sein Ende. In ihrer Kindheit, so schreibt Schubert, habe es noch die Zeiteinheit Ulb gegeben. Das sei der Sekundenbruchteil zwischen dem Erkennen eines Ostsenders mit Ulbrichts Stimme bis zum Abschalten gewesen. 1989 habe die Zeiteinheit dann Schnitz geheißen, benannt nach dem DDR-Journalisten Karl-Eduard von Schnitzler und seinem „Schwarzen Kanal“. Sie habe lieber die Bundestagsdebatten im Westfernsehen verfolgt, wo zu lernen war, „dass man Leute mit einer anderen politischen Meinung anhören und ausreden lassen muss.“
Helga Schubert beschreibt auch den 9. November 1989, der Tag an dem endgültig klar war: „Der Kaiser war nackt“. Es schüttelt einen immer noch, wenn man solche Szenen eines historischen Glückstags erzählt bekommt. Und danach? „Seit ich ohne behördliche Erlaubnis in die ganze Welt reisen darf, ist mein zerstörerisches Fernweh geheilt.“ Der 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit, sei für sie ein Feiertag von Anfang an.
„Die Ostsee verlässt dich nicht“
So geht es in diesen leicht lesbaren Texten keineswegs nur um Not, Schmerz und Tragik. Auch vom Trost des Lesens und der Kunst des Schreibens ist die Rede. Nicht zuletzt wird die Natur gewürdigt, werden die Reize ihrer mecklenburgischen Heimat benannt. Warum sie die Ostsee so sehr schätze? Die sei immer da, verlasse einen nicht. „Ganz anders als die mächtig tosende Nordsee mit ihrer Flut. Und ihrer Ebbe.“
Einmal auch wird ein Witz erzählt, der sie in ihrer Jugend beeindruckt hat: „Treffen sich zwei auf der Straße. Sagt der eine, kennst du schon den neusten Witz, wo die Frau sich aus dem Fenster lehnt und schreit: Hilfe, Hilfe! Ich habe meine Schwere verschluckt, und ihr Mann am Fenster auftaucht und sagt, ist nicht so schlimm, nimm meine! – Ne, kennt ich nicht, sagt der andere, erzähl mal!“ Seitdem, schreibt Schubert, „liebe ich Doppelpointen“.
„Vom Aufstehen“ ist ein Mosaik aus vielen Lebenssteinchen. Anrührend und anregend ausgelegt in 29 meist kurzen Kapiteln. Eines davon trägt den Titel „Alles gut“. Auch der letzte Satz des Buches lautet: „Alles gut.“ Zu ändern ist eh nichts mehr. Die Erzählerin führt keine Klage, nicht einmal eine Wehklage. Ihre Geschichten leuchten im milden Abendlicht. Alles gut.
Martin Oehlen
Der Preis der Leipziger Buchmesse wird am 28. Mai 2021 verliehen. Heute, am 13. April, wurden die Nominierungen bekanntgegeben. In der Belletristik sind dies Helga Schubert mit „Vom Aufstehen“ sowie Iris Hanika („Echos Kammern“), Judith Hermann („Daheim“), Christian Kracht „Eurotrash“ und Friederike Mayröcker („da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“).
Auf diesem Blog findet sich ein kurzer Beitrag über Helga Schuberts Auftritt beim Bachmannwettbewerb – und zwar HIER .
Helga Schubert: „Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten“, dtv, 222 Seiten, 22 Euro. E-Book: 18,99 Euro.

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