
Der Zeitpunkt für den Start in ein gemeinsames Leben ist denkbar schlecht gewählt. Am 1. September 1939 ist die deutsche Wehrmacht in Polen einmarschiert, die Sowjetunion hat die Situation genutzt und Ostpolen besetzt. Auch in Bukarest ist die Lage angespannt. Die Straßen sind voll mit Flüchtlingen aus Polen, die sich mit Sack und Pack über die Karpaten in die vermeintliche Sicherheit Rumäniens gerettet haben. Dort weiß man kaum, was man mehr fürchten soll. Einen Angriff der „Hunnen“ oder der kaum minder eroberungsfreudigen Russen? Schon wird in den Restaurants und Hotelbars der Stadt gemunkelt, „dass an der Grenze ausländische Truppen zusammengezogen werden“.
Harriet und Guy Pringle lassen sich von der allgemeinen Verunsicherung nicht anstecken. Hinter ihnen liegt eine mehrtägige Zugfahrt durch einen verschreckten, kriegsbedrohten Kontinent, als sie im September 1939 in Bukarest eintreffen, um in der rumänischen Hauptstadt ein gemeinsames Leben zu beginnen. Das britische Paar hat erst kurz zuvor geheiratet, eine Blitzhochzeit, noch bevor es Zeit hatte, einander kennenzulernen. Man richtet sich ein in dieser fremden, übervölkerten Stadt mit ihren zerlumpten Bettlern und Bauern, ihren überladenen Cafés und überfüllten Bars, in denen Journalisten aus ganz Europa auf Neuigkeiten aus den Kriegsgebieten warten.
Olivia Manning, 1908 im englischen Portsmouth geboren, schöpft in ihrem bereits 1960 erschienenen Roman „Der große Reichtum“ aus eigenem Erleben. Wie Guy Pringle war ihr Ehemann Englischlehrer an der Universität von Bukarest. Gemeinsam flüchtete das Ehepaar während des Zweiten Weltkriegs quer durch Europa bis nach Jerusalem. Ihre Erlebnisse verarbeitete die 1980 verstorbene Autorin in einem gewaltigen, sechs Teile umfassenden Romanzyklus. Der vorliegende Band, in Deutschland erstmals 1992 unter dem Titel „Im Fluss der Zeit“ in einer gekürzten Fassung erschienen, stellt den Auftakt der Reihe dar. Der nächste Band, „Die gefallene Stadt“, folgt bereits im April.
Guy und Harriet sind schon bald Teil einer britischen Community, die sich allabendlich in einer der vielen Bars und Restaurants der Stadt trifft. Dazu gehören britische Journalisten, Botschaftsangehörige und verlorene Seelen wie der abgehalfterte Lebemann Jakimov, der sich mit schamlosem Eifer durchs Leben schnorrt. Mit gerümpfter Nase blicken sie herab auf die rumänische Gesellschaft, die ihrerseits nichts zu tun haben will mit den versnobten Briten.
Doch der Krieg rückt mit jedem Monat näher, und Fremde wie Einheimische beginnen die Zukunft zu fürchten. Schon machen sich in der „Englischen Bar“, bisher das Refugium britischer Journalisten, die Deutschen breit, und auf einer Landkarte im Fenster ihrer Botschaft ist der Vormarsch der deutschen Truppen in Frankreich markiert.
Fast beiläufig erzählt Olivia Manning von den Veränderungen in der Stadt. Von den Schicksalen der Juden, die in Rumänien Zuflucht gesucht haben und inzwischen auch dort verfolgt werden. Von den pensionierten britischen Gouvernanten, die ihren Lebensabend in Bukarest verbringen hofften und nun um ihre Pläne fürchten. Und nicht zuletzt von Guy und Harriet, deren unterschiedliche Temperamente das Zusammenleben zu einem Vabanquespiel machen.
Olivia Manning braucht keine großen Worte, keine feingeschliffenen Sätze, um den Horror zu schildern, der über Europa gekommen ist. Um von Tod und Verfolgung zu erzählen, von Existenzängsten und geplatzten Lebensträumen. „Der größte Reichtum“ lebt vor allem von ihrer scharfen Beobachtungsgabe und ihrer Fähigkeit, das Große im Kleinen zu schildern. Ein atmosphärisch dichtes Stück Zeitgeschichte, das neugierig macht auf die Folgebände.
Petra Pluwatsch
Olivia Manning: „Der größte Reichtum“, deutsch von Silke Jellinghaus, mit einem Nachwort von Rachel Cusk, Rowohlt, 464 Seiten, 24 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
