
Von der Herrenstraße sind nur wenige Meter geblieben, die Prämienstraße ist zumindest in Teilstücken erhalten. Der große Rest des Dorfes Licht-Steinstraß bei Niederzier fiel in den 1980er Jahren dem rheinischen Braunkohletagebau zum Opfer. Die rund 1400 Einwohner wurden umgesiedelt nach Licht-Steinstraß-neu, das heute ein Stadtteil von Jülich ist. Ob sie dort eine neue Heimat fanden oder Menschen ohne Wurzeln blieben, dieser Frage geht Andreas Wagner in seinem bewegenden Debütoman „Jahresringe“ nach.
Das Geheimnis der Lebkuchen
Man schreibt das Jahr 1946. Der Strom der Vertriebenen, die aus Schlesien und Ostpreußen in den äußersten Westen Deutschlands gespült werden, reißt auch ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht ab. Zum großen Heer der Verlorenen und Verzweifelten gehört Leonore Klimkeit, eine zerlumpte 13-Jährige mit durchgelaufenen Schuhen, die aus Selbstschutz vorgibt, bereits 21 Jahre alt zu sein.
Durch Zufall strandet die Kriegswaise, die im Krieg die Eltern und einen Bruder verloren hat, in Lich-Steinstrass. Beim örtlichen Bäcker findet sie eine neue Bleibe. Jean Immerath, den alle Hannes nennen, ist selber ein an Leib und Seele Versehrter, gezeichnet durch die Schrecken zweier Weltkriege und geschlagen mit einer pflegebedürftigen alten Mutter.
Die Herrenstraße 7 in Lich-Steinstrass wird Leonores neues Zuhause; in der Bäckerei, die sie eines Tages erben wird, weiht Hannes sie in die Geheimnisse des Moppen-, des Lebkuchenbackens also ein. Für die Dorfbewohner allerdings bleibt die junge Frau die Fremde aus dem Osten.
Lich-Steinstrass ist dem Untergang geweiht
Einfühlsam schildert Wagner, 1978 in einem Dorf am Niederrhein geboren, das einsame Leben Leonores, die sich nichts sehnlicher wünscht als ein eigenes Kind. Erst als ihr Sohn Paul geboren wird, das Ergebnis eines mystisch überhöhten One-Night-Stands, scheint sie endgültig angekommen zu sein in ihrem neuen Leben.
Doch Lich-Steinstrass ist zum Untergang verurteilt, und so verliert Leonore ein zweites Mal die Heimat. Beharrlich arbeiten sich die Schaufelbagger der Rheinbraun AG durch das Erdreich und verschlingen Straße um Straße, Haus um Haus. Lange stemmt sich Leonore gegen den Verkauf der Bäckerei. Sie wisse, was es heißt, seine Heimat zu verlieren, schleudert sie dem Unterhändler des Energieunternehmens entgegen. „Wie in aller Welt wollen Sie das angemessen entschädigen? Ihr Scheiß-Geld kann das nicht.“
Zwischen Baumhaus und Schaufelbagger
Wagner verfolgt das Schicksal der Leonore Klimkeit bis zu deren Tod im Jahr 2017. Längst ist Paul erwachsen und selber Vater zweier Kinder. Auch er hat seine Heimat verloren und versucht nach der Umsiedlung mehr schlecht als recht, im neuen Dorf Fuß zu fassen. Die Bäckerei ist verloren, das Familienrezept der Immeraths an eine Großbäckerei verkauft, er selber arbeitet als Wachmann im Tagebau.
Was noch viel schwerer wiegt: Pauls Kinder stehen sich als Feinde gegenüber. Sohn Jan steht wie der Vater auf der Gehaltsliste des Energiekonzerns. Stolz sitzt er in der Führerkabine eines der riesigen Schaufelbagger. Tochter Sarah hat ihr Studium hingeworfen. Jetzt lebt sie mit Gleichgesinnten in einem Baumhaus und stemmt sich gegen die Vernichtung des Hambacher Forsts.
Eindringlich beschreibt Wagner, was es für die Menschen im Braunkohleabbaugebiet bedeutet, ihr Zuhause, ihre Häuser, ihre Nachbarn zu verlieren und andernorts Wurzeln zu schlagen. Sein Roman ist ein Stück Zeitgeschichte, rheinische Zeitgeschichte, die sich direkt vor unserer Haustür abspielt, unsentimental erzählt und dadurch umso überzeugender. Dankenswerterweise hat der Autor auf jedwede Heimat-Tümelei verzichtet, auch wenn die Suche nach Heimat, nach dem verlorenen Paradies, das beherrschende Thema dieses vielversprechenden Debütromans ist.
Petra Pluwatsch
Andreas Wagner: „Jahresringe“, Droemer, 256 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.

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