
Fabelhaftes Ensemble aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien: „Satyr als Buttenmännchen“ aus Buchsbaum, Silber und Gold, Vogeldrachengefäß aus Bergkristall mit Gold und Smaragden, Deckelpokal mit Straußenei und Koralle, Drachenpokal mit Chalcedon, Gold, Email, Perlen und Rubinen, Nautiluspokal mit Rhinozeroshorn (von links nach rechts). Foto: Massimo Listri / Taschen Verlag
Am Anfang war die Wunderkammer. Mit ihr fing an, was sich heute Museum nennt. Allerdings mit einem Unterschied: „In der Wunderkammer fand alles, aber wirklich alles seinen Platz“ schreibt Antonio Paolucci in einem neuen Prachtband des Taschen-Verlags. „Alles“ ist womöglich ein zu großes Wort. Aber sehr vieles fand Eingang, was den Menschen der Renaissance und des Barock als Rarität und Besonderheit galt: „Bildende Kunst, wissenschaftliche Geräte, Astrologie und Medizin, Zoologie und Botanik, Gemmologie und Metallurgie, Esoterik und Alchemie.“
Während das moderne Museum sich spezialisiert hat, weil das Großeganze nicht in den Griff zu bekommen ist, glaubte man zu Beginn des Sammelns und Ausstellens noch daran, die Welt in eine Kammer packen zu können. Diesen Gedanken hat der Italiener Tommaso Campanella in seiner Utopie „Der Sonnenstaat“ – erschienen 1602 – verfolgt und einen Tempel aller Künste und Wissenschaften skizziert. Damit traf er den Zeitgeist, wie Paolucci feststellt: Die Wunderkammern seien „wie Pilze“ aus dem Boden geschossen. Allerdings zielten sie zunächst nicht auf einen regulären Publikumsverkehr, sondern dienten in erster Linie der Erbauung und der Repräsentation des Adels.
Vor allem die Fotografien von Massimo Listri sind es, die in diesem „Buch der Wunderkammern“ den Geist des Beginnens spiegeln. Listri hat dabei Raum wie Detail im Blick. Er porträtiert die Objekte in brillanter Klarheit und nimmt ihnen dabei nichts von ihrer Aura – was der Bildband technisch vorzüglich reproduziert. Wachsfiguren und Haarmenschen-Porträts sind zu bestaunen, Elfenbeinkugeln und Nautiluspokale, Planetenmodelle und Skelette, ein Kalkstein mit Silberader und die Kreuzigung Christi in Koralle geschnitzt, Polyeder und tragbare Apotheken, Goldschmuck und Diamanten, Glas- und Münzen- und Muschel- und Mineralienkabinette, Geheimschränke und Gipsfiguren, Krokodile an der Decke und ein Automat, der einen Pfeil abschießt. Kurzum – es gibt hier „Naturalia“, „Artificialia“, „Scientifica“ und „Mirabilia“ bis das Auge tränt.

Im Naturalien-Kabinett der Benediktiner-Abtei Seitenstetten in Österreich befindet sich diese Kaurischnecken- Sammlung. Foto: Massimo Listri / Taschen Verlag
Im 19. Jahrhundert sind die Wunderkammern mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt worden. Ihr enzyklopädischer Anspruch kollidierte mit dem Fortschritt des Wissens und der Wissenschaft. Wunder wurden immer seltener. Doch Spuren der Sammlungen gibt es noch heute – sei es im Grünen Gewölbe von August dem Starken in Dresden, sei es auf Schloss Ambras oder im Tesoro dei Granduchi im Palazzo Pitti in Florenz. Wir reisen in diesem Band zu insgesamt 19 Wunderkammern in Westeuropa. Die Mehrzahl davon gibt es in Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland, weitere in Schweden, Dänemark und England. Einige wenige darunter stammen aus der Neuzeit, angelegt von emsigen Antiquitätenhändlern.
Massimo Listris Fotografien feiern Schönheitssinn und Wissensdurst. Sie dokumentieren, nein, sie porträtieren eine gleichermaßen bizarre wie bezaubernde Vielfalt. Die Schaulust, welche die Wunderkammern einst auslösten, kann uns auch heute beim Betrachten dieser Aufnahmen befallen. Sie wird hier aufs Schönste geweckt und befriedigt. Wer den Band zugeklappt hat, der wird ihnen wohl gleich aufs Neue aufschlagen mögen.
Martin Oehlen
Bildhinweis:
Das Foto im Header am Kopf des Artikels zeigt Deckelpokale aus Elfenbein, vor allem aus der Werkstatt von Johann Eisenberg, aus dem 17. Jahrhundert. Sie befinden sich im Tesoro dei Granduchi in Florenz. Foto: Massimo Listri / Taschen Verlag
Massimo Listri: „Das Buch der Wunderkammern“, Taschen Verlag, dreisprachige Ausgabe, 356 Seiten, 100 Euro.