Reifrock und Emanzipation: Simone Scharberts poetische Biografie der Alice James

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„Enter to Grow in Wisdom“ – Motto über einem Eingangsportal zur Harvard University in Boston. Alice James war dieser Weg versperrt. Foto: Bücheratlas

Ein neues Genre hat Simone Scharbert in die Literatur eingeführt: die Anrufung. Diese hat nichts mit der Anbetung einer Gottheit zu tun, ist aber gleichwohl Ausdruck einer entschiedenen Zuneigung. Eine solche hegt die Autorin – und hegt auch bald schon der Leser – für Alice James (1848 – 1892). Die Ostküsten-Amerikanerin litt ein Leben lang an einer Krankheit, die in jenen Jahren als „Hysteria“ diagnostiziert wurde und nichts mit der uns heute geläufigen Hysterie zu tun hat. Alice James war oft an ihr Bett gefesselt, mehr oder minder anteilnehmend umsorgt in ihrem wohlhabenden und renommierten Elternhaus in Boston. Berühmt sind noch heute ihre Brüder William und Henry, Psychologe und Philosoph der eine und Schriftsteller der andere. In diesem Umfeld, heißt es, war sie zuweilen nur Anhängsel, Kapriole, Dekor. Eine Last.

Nicht selten dachte Alice James an Selbstmord. Als dann eine Brustkrebs-Erkrankung festgestellt wurde, wirkte sie geradezu erleichtert: „endlich“.

So jedenfalls schildert es Simone Scharbert in ihrer poetischen Biografie. Darin ist viel  von den Nöten der Alice James die Rede. Vor allem von der Gefangenschaft im eigenen Körper und in einer männerseligen Gesellschaft, gleichermaßen ins Bild gesetzt durch die Verweise auf die einschnürende Reifrock-Mode und das Bett als Lebensmittelpunkt. Aber es gibt immer wieder Auf- und Ausbrüche. Dazu trägt ihr Bruder William bei, später dann die selbstbewusst-emanzipierten Freundinnen Fanny Rollins und Katharine Loring, schließlich die Entscheidung, ein Tagebuch zu führen. Dieses „Journal“ ist posthum veröffentlicht worden. Das Werk hat nicht nur den Namen der Schriftstellerin bekannt gemacht, sondern auch den der frühen Feministin.

Heute gilt Alice James, schreibt Simone Scharbert, als Ikone der amerikanischen Frauenbewegung. Noch der Vater war der Ansicht gewesen, „übermäßige Bildung“ bekomme Mädchen und Frauen nicht. Im Buch liest sich das so: „dass wissen nicht ihr sinn, ihr ziel sei, erklärt er dir weiter, schreibt es sogar auf.“ Doch die Zeiten änderten sich. Bruder Henry meinte eines Tages gar, Boston sei das Zentrum der Frauenbewegung; zwei Feministinnen (und ein Erzkonservativer) stehen dann auch im Zentrum seines Romans „Die Damen aus Boston“.

Mit der direkten, insistierenden Ansprache schenkt Simone Scharbert ihrer Protagonistin die Aufmerksamkeit, die dieser zu Lebzeiten verwehrt war: „du, alice“. Die Kleinschreibung wird konsequent angewendet in den nach Jahren aufgeteilten Kapiteln. Die vielen Absätze darin wirken wie Kraftpakete, wie Boxen, wie die Rechtecke von Bettgestellen, wie Strophen eines Langgedichts. In dieser fein getrimmten Prosa ist die Lyrikerin unverkennbar: „deine sprache liegt neben dir, dein mund trocknet aus, wortlaub sammelt sich auf deiner zunge.“ Es sind kurze und klare Sätze, austariert wie die Takte einer Komposition, schwingend und vorwärtstragend, sich zuweilen aufstauend und dann losbrechend. Packend das Ganze.

Auf „du, alice“ sind wir aufmerksam geworden, als Simone Scharbert diese Prosaarbeit vor wenigen Tagen beim Online-Literaturfestival „viral“ vorgestellt hat. Anschließend schrieben wir auf diesem Blog über das Buch: „Das würde man gerne mal zur Hand nehmen.“ Mittlerweile ist es dazu gekommen. Eine faszinierende Lektüre.

Martin Oehlen

Eine kurze Lesung der Autorin aus ihrem Buch findet sich in den „Kölner Literaturclips“ auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=SR3jaI3Sz6A .

Simone Scharbert: „du alice – eine anrufung“, edition Azur, 120 Seiten, 20 Euro.

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