Der Lyriker Paul Celan wurde vor 100 Jahren, am 23. November 1929, geboren. Vor 50 Jahren hat er Selbstmord begangen, mutmaßlich am 20. April 1970 in Paris; am 1. Mai wurde sein Leichnam in der Seine entdeckt. Der Philosoph Martin Heidegger wurde 1889 in Meßkirch geboren und starb 1976 in Freiburg.

Foto: Bücheratlas
Paul Celans Begegnungen mit Martin Heidegger sind bis heute ein Rätsel. Dass sich ausgerechnet der große Lyriker, dessen jüdische Eltern von den Nazis ermordet worden sind und der selbst als junger Mann verfolgt wurde, mit dem zeitweiligen Sympathisanten der Nazis getroffen hat, ist kaum nachzuvollziehen. Zumal Celan ansonsten und sehr verständlich höchst empfindlich reagierte, wenn er die Nähe von ehemaligen Tätern oder Mitläufern der NS-Herrschaft wahrnahm – wenn er also beispielsweise solche als seine möglichen Mitstreiter in Anthologien oder als Vorgänger einer renommierten Auszeichnung entdeckte. Wieso ließ er sich dann auf den berühmten Philosophen ein?
Dieser Frage geht Hans-Peter Kunisch nach. Die einschlägigen Befunde über die insgesamt drei Begegnungen des Dichters mit dem Philosophen in den Jahren 1967, 1968 und 1970 sind nicht groß an Zahl. Vielleicht ist das der Grund, weshalb Kunischs Spurensuche ein wenig gedehnt wirkt und er sich dazu versteigt, die Empfindungen und Gedanken seiner Protagonisten zu imaginieren. Vor einer Freiburger Lesung erfahren wir beispielsweise, der Lyriker liege „auf seinem schmalen Bett und horcht, mitten am Nachmittag, auf alles, was von draußen kommt und durch seinen Körper geht.“ Ein anderes Mal steht es so um ihn: „Heute kommt sich Celan manchmal wie ein alter, unbeweglicher und kranker Waschbär vor.“ Bedenkt man, wie skrupulös Celan sämtliche ihm zugedachten Zuschreibungen geprüft hat, mag man sich nicht vorstellen, was er zu solchen Empfindungsfantasien gesagt hätte.
Der Leser fühlt sich weitaus besser informiert, wenn Kunisch bei den Fakten bleibt. Der Autor geht davon aus, dass sich Celan „der besonderen Sprache“ Heideggers verwandt fühlte. Beide seien auf der Suche gewesen „nach einer neuen, unverbrauchten Sprache, die aus einer alten, verschütteten entwickelt werden muss“. Heidegger wiederum bewunderte Celans Werk und schrieb: „Er steht am weitesten vorne und hält sich am meisten zurück.“
So sehr sich der Dichter und der Philosoph also einander schätzten, so sehr hatte Celan Angst, schreibt Kunisch, von Heidegger instrumentalisiert zu werden: „Persilscheine von Juden waren für in den Nationalsozialismus verstrickte Zeitgenossen noch lange nach Ende des Krieges heißt begehrt.“ Es wäre naiv anzunehmen, so Kunisch weiter, dass dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Heidegger solche Strategien fernlagen. Berüchtigt ist nicht zuletzt seine Antrittsrede als Rektor der Freiburger Universität, in der er das „Führerprinzip“ auf die Universität übertrug, das studentische Dasein als „Wehrdienst“ betrachtete und ganz generell den Eindruck machte, von der „Hitlerei“ (ein Celan-Wort) begeistert zu sein, ohne Hitler beim Namen zu nennen.
Zur zentralen Stelle für „Celans nie ganz nachlassendes, aber nie unbedingtes Interesse an Heidegger und seinen Werken“ erklärt Kunisch eine Passage aus einem Brief des Lyrikers an Ingeborg Bachmann aus dem August 1959. Darin schreibt Celan: „Ich bin, du weissts, sicherlich der letzte, der über die Freiburger Rektoratsrede und einiges andere hinwegsehen kann, aber ich sage mir auch, zumal jetzt, da ich meine höchst persönlichen Erfahrungen mit so patentierten Antinazis wie Böll oder Andersch gemacht habe, dass derjenige, der an seinen Verfehlungen würgt, der nicht so tut, als habe er nie gefehlt, der den Makel, der an ihm haftet, nicht kaschiert, besser ist als derjenige, der sich in seiner seinerzeitigen Unbescholtenheit … auf das bequemste und einträglichste eingerichtet hat.“ Kunisch merkt an, dass nicht zu rekonstruieren sei, wo Celan Heideggers „Würgen“ bemerkt haben könnte. Und schon gar nicht konnte Celan Heideggers Aufzeichnungen in den „Schwarzen Heften“ kennen, die erst in diesem Jahrtausend veröffentlicht wurden und die Kunisch als antisemitisch einstuft.
„Todtnauberg“ heißt Celans Gedicht, das er nach seinem 67er Besuch in der Heidegger-Hütte im gleichnamigen Schwarzwald-Dorf geschrieben hat. Es ist ganz aus den Eindrücken des Tages geschrieben, wie sich nach Hans-Peter Kunischs Rekonstruktion der Begegnung sagen lässt. Es drückt Freude, Unbehagen und Hoffnung aus, bietet Anspielungen und Andeutungen zuhauf, ist so konkret wie offen. Faszinierend. Da denkt man einmal mehr: Es ist eine gute Idee, sich auf Paul Celan einzulassen, gerade im Gedenkjahr 2020.
Martin Oehlen
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Ein sehr empfehlenswerte Auswahl aus den Briefen von und an Paul Celan ist zuletzt im Suhrkamp-Verlag erschienen. Eine ausführliche Besprechung findet sich auf diesem Blog – und zwar HIER.
Hans-Peter Kunisch: „Todtnauberg – Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung“, dtv, 350 Seiten, 24 Euro. E-Book: 16,99 Euro.