
Alarm schlagen oder nicht – das ist für Josef Klein viel zu lange eine Frage. Foto: Bücheratlas
„Du wirst nie wissen, was die Motive der anderen waren“, sagt Lauren zu Josef, der je nach Aufenthaltsort auch Joe oder José genannt wird. „Aber du weißt, was du getan hast. Und falls du dir etwas vorzuwerfen hast, lerne damit zu leben.“ Damit meint sie nicht ihre gemeinsame Liebesbeziehung, die sich da schon dem Ende zuneigt. Vielmehr zielt sie auf Josefs Zusammenarbeit mit deutschen Nazis, die in den USA für Hitlers Weltherrschaftspläne spionieren.
Ulla Lenze erzählt eine bizarr anmutende Geschichte, die jedoch verbürgt ist. Die 1973 in Mönchengladbach geborene Autorin weist zu Beginn von „Der Empfänger“ darauf hin, dass sie die Lebensgeschichte ihres Großonkels Josef Klein zu großen Teilen verarbeitet habe. Und am Ende des Buches dankt sie ihrer Mutter, die als „Täubchen“ einige Kurzauftritte im Roman bekommt und „die sich für mich an alles erinnert hat“. Selbstverständlich ist dies eine Fiktion – wenn auch eine auf historischem Grund.
Nazis und Nazi-Spionage in den USA vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges – das ist ein historisches Kapitel, das in der Öffentlichkeit wenig bekannt ist. Allerdings ist es in der Forschung vielfach behandelt worden, was sich auch der Literaturliste entnehmen lässt, die die Autorin anführt. Die Namen einiger Zentralfiguren sind verbürgt. Darunter ist Fritz Kuhn als Leiter des Amerikadeutschen Bundes, der Doppelagent William Sebold und Fritz Joubert Duquesne als Chef des Spionagerings. Auf einem FBI-Plakat mit allen 33 verhafteten Mitgliedern dieses Ringes ist auch das Foto von Josef Klein zu sehen. Ein Mann ohne Überzeugung und ein Agent ohne Reue.
Neuss, New York, Buenos Aires und San José in Costa Rica sind die Stationen, an denen wir Josef Klein in den Jahren vor und nach dem Zweiten Weltkrieg begleiten, nicht in chronologischer Folge, sondern hin- und herspringend. Josef, 1903 geboren, wird zu Joe, als er 1925 in die amerikanische Metropole auswandert. Dort schlägt er sich eher schlecht als recht als Angestellter seines Freundes Arthur durch, der Werbe-Flyer produziert.
Bei der Kundschaft ist man nicht wählerisch, kann sich das angeblich nicht leisten. Ende der 30er Jahre sind darunter auch Hitler-Anhänger aus Deutschland, die in der Amerikanischen Nazipartei und in obskuren Gruppen zu finden sind. Manche treffen sich im „Old Heidelberg“, wo im Februar 1939 deutsche Karnevalslieder gespielt werden: „Denn einmal nur ist Karneval, ist Karneval am Rhein.“
Die Nazi-Enklave wird auf Joe aufmerksam, weil er seine Freizeit als Amateurfunker verbringt. Er liebt die technische Herausforderung. Und er schätzt diese neue Form der Kommunikation: „Niemand sah ihn. Niemand wusste etwas über ihn.“ Im Äther heißt er nur „W4NER“.
So einen können die New Yorker Nazi-Spione gut gebrauchen, um Informationen an den deutschen Geheimdienst zu senden. Darauf lässt sich Joe ein in einer Mischung aus Lethargie und Naivität. Auch sorgen ein paar Dollar dafür, dass er nicht intensiv nachfragt, welche verschlüsselten Botschaften er da funkt. Ein bisschen Psycho-Druck spielt womöglich ebenfalls eine Rolle.
Schon bei der Produktion der üblen Flyer hatte Joe sich herausgeredet: „Er hatte mit Inhalten doch gar nichts zu tun, und das war ihm wichtig.“ Jetzt weiß er wieder von nichts. Dennoch funkt er drauflos. Widerwillig zuweilen, so stellt es Ulla Lenze dar. Aber er funkt. Baut sogar ein mobiles, schwer zu ortendes Gerät. So kommt einer unter die Räuber. Es ist eine der schlichtesten Arten, sich ins Böse zu verrennen.
Joes Freundin Lauren ist es dann, die ihm ins Gewissen redet. Ihr Rat: Er solle sich dem FBI offenbaren. Das macht er tatsächlich eines Tages, als ihn der US-Geheimdienst schon längst im Visier hat. Doch das FBI verhaftet ihn nicht. Agent Ettinger unterbreitet den Vorschlag, die Kurzwellen-Aktivität fortzusetzen: „Halten Sie Kontakt zu denen. Informieren Sie uns über Neuigkeiten. Das können Sie doch wohl, oder?“ Nun ist Joe ein Doppelagent.
Joe sitzt zwischen vielen Stühlen und schließlich auch, als der Krieg ausgebrochen ist, im US-Gefängnis. Dort bleibt er acht Jahre, erst in Sandstone und dann auf Ellis Island. Als er aus der Haft entlassen wird, sucht er 1949 seinen Bruder Carl in Neuss auf. So recht öffnen mag er sich ihm gegenüber freilich nicht. Es kommt zu Spannungen unter den Brüdern. Auch zu Gefühls-Irritationen bei Edith, die von ihrem Ehemann Carl als „tüchtig“ bezeichnet wird. Als wäre sie seine Angestellte. Ulla Lenze entwirft hier so knapp wie beiläufig das Porträt einer kuschenden Frau in emanzipationsferner Zeit, verfallen „in schlichtes Sein“.
Im kriegsbeschädigten Neuss will Josef nicht bleiben. Vielleicht ist es ihm dort zu eng, vielleicht sorgt er sich wirklich um eine neuerliche Verhaftung. So wärmt er seine Nazi-Kontakte auf, um erst nach Argentinien und dann nach Costa Rica zu ziehen. Dass die alten Netzwerke nach dem Krieg noch funktionieren, wird nachhaltig deutlich. Josef wird fortan Don José genannt.
Ulla Lenze, deren literarische Karriere 2003 mit „Schwester und Bruder“ sowie dem Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln begonnen hatte, legt hier ihren fünften Roman vor. Der Ton, in dem sie diesmal erzählt, ist nüchtern. Formuliert sie einmal mit mehr Sprachmut ein Bild, sticht dieses gleich heraus. So stellt sie Josefs Frauen vor als „stets ein bisschen drall und überschminkt, mit einer Müdigkeit, aus der sie sich das Lachen pflückten wie ein lästiges Haar“.
Es ist ein verstörender Lebenslauf, der hier gezeichnet wird. Josef Klein ist ja kein glühender Anhänger nationalsozialistischen Gedankenübels. Er bekennt sich zum Hotspot New York, liebt den Jazz von Ella Fitzgerald und Duke Ellington und sucht als Amateurfunker den Kontakt mit aller Welt. Allerdings distanziert er sich nicht vom braunen Umfeld, sondern macht mit, wo er nicht hätte mitmachen müssen. Dass solch ein Verhalten grundfalsch ist, wird uns gerade heute wieder sehr bewusst. So ist „Der Empfänger“ von Ulla Lenze ein Roman zur rechten Zeit.
Martin Oehlen
Lesungen mit Ulla Lenze:
in Hamburg am 27. Februar um 20 Uhr in der Buchhandlung Christiansen, Bahrenfelder Straße 79 (Vorpremiere);
in Berlin am 5. März in der Volksbühne Berlin, Linienstraße 227 (Premiere);
in Leipzig am 12. März um 12 Uhr am FAZ-Stand der Leipziger Messe, Messe-Allee 1;
in Koblenz am 12. März um 20 Uhr im Rahmen des GanzOhr-Literaturfestivals in der StadtBibliothek Koblenz, Zentralplatz 1;
in Leipzig am 13. März um 14.45 Uhr im taz-Studio der Leipziger Buchmesse, Messe-Allee 1.
Weitere Auftritte auf der Leipziger Buchmesse folgen. Dann geht es weiter:
in Köln am 16. März im Rahmen der lit.Cologne im Brunosaal, Klettenberggürtel 65;
in Berlin am 19. März um 20 Uhr in der Buchhandlung Chaiselongue, Dietzgenstraße 68;
in Berlin am 27. März um 20 Uhr in der Buchhandlung Wandlitz, Prenzlauer Chaussee 167.
Weitere Auftritt folgen.
Ulla Lenze: „Der Empfänger“, Klett-Cotta, 302 Seiten, 22 Euro. E-Book: 17,99 Euro.