
Sie kamen, sahen und siegten: Statue für einen Cowboy in Denver. Foto: Bücheratlas
Mit Donald Trump hat der Buchtitel nichts zu tun. Nichts mit den präsidialen Lügen und nichts mit dem präsidialen „Fake News“-Mantra. „Diese Wahrheiten“, wie Jill Lepore ihre große Geschichte der Vereinigten Staaten überschrieben hat, bezieht sich auf den Entwurf der Unabhängigkeitserklärung, den Thomas Jefferson 1776 formuliert hat. Darin legt Jefferson „diese Wahrheiten“ zugrunde: alle Menschen sind gleich geschaffen, alle Menschen haben natürliche und unveräußerliche Rechte, und zur Wahrung dieser Grundrechte werden Regierungen von den Regierten eingesetzt. Auf diesen drei politischen Ideen beruhe „das amerikanische Experiment“, wie die Harvard-Professorin schreibt.
Lepore durchschreitet den Kontinent von der Kolonialisierung bis zur aktuellen Präsidentschaft. Und sie tut dies mit großer Entdeckerlust, welche zu vielen Begegnungen mit Individuen aus dem großen Mahlstrom der US-Geschichte führt. Das sind nicht immer die großen Lenker, heißen sie nun Kolumbus oder Kennedy, sondern oft diejenigen, die mitgerissen werden – wie etwa Elizabeth Hopkins, die an Bord der „Mayflower“ ein Kind zur Welt bringt und dann wegen der Atlantikstürme nicht in Virginia landet, sondern in Cape Cod.

Jill Lepore Foto: Bücheratlas
Lepore selbst beschreibt ihre Vorgehensweise: „Meine Methode ist, allgemein gesagt, die Toten für sich selbst sprechen zu lassen. Ich habe ihre Worte zwischen diese Seiten gepresst, wie Blumen, wenn es wegen ihrer Schönheit geschah, oder wie Insekten, wegen ihrer Scheußlichkeit.“ Ihre Beschäftigung mit der Geschichte sei von der Art, dass man in ein Gesicht schaue und dahinter ein anderes entdecke – „Gesicht um Gesicht um Gesicht“.
Diese erzählerische Farbenfreude macht das Werk so attraktiv. Gewiss werden die großen Linien deutlich, wird der Fortgang der Ereignisse analysiert und kommentiert. Doch geschieht dies nicht einem freudlosen Wissenschafts-Sprech. Vielmehr verbindet die Historikerin hier Sachverstand mit Stilbewusstsein. Sie weiß, mit welchen Szenen sie die Leser bannen kann; und sie weiß, dass sie auch mit feinen Formulierungen die Aufmerksamkeit hochzuhalten vermag. Übersetzer Werner Roller hat dabei für die deutsche Ausgabe überzeugend mitgewirkt. Ein Beispiel? An der Atlantikküste, heißt es im ersten Teil, „sprossen in dichter Folge weitere Kolonien wie Rohrkolben an Seeufern aus dem Boden.“ So eroberten Europäer das Reich der Cherokee, Navajos, Sioux, Hopi, Apachen, Schoschonen …
Mit Hillary Clintons Niederlage klingt das Buch aus. Zahlreich sind die Gründe, die Lepore für das Scheitern der Demokraten anführt. Darunter auch diesen: „Das Clinton-Wahlkampfteam ging davon aus, Trumps politische Karriere sei durch die Veröffentlichung einer Tonaufzeichnung beendet, in der er die Ansicht vertrat, die beste Art, sich Frauen zu nähern, sei, ‚ihnen an die Muschi zu fassen‘. Aber selbst das hatte konservative Christen nicht daran gehindert, ihn zu unterstützen.“ Und Lepore zitiert zustimmend Ann Coulter (der sie ansonsten hübsch spitz ein vollkommenes Desinteresse an Belegen attestiert): „Trump könnte nichts tun, was ihm nicht verziehen würde. Es sei denn, er ändert seine Haltung zur Einwanderungsfrage.“
Ein solcher Richtungswechsel ist freilich nicht zu erwarten. Und das ausgerechnet in einem Land, in das Menschen aus aller Welt gekommen sind. Im Epilog sagt es Jill Lepore mit diesen Worten: „Eine Nation von Einwanderern kann ihre Grenzen nicht schließen.“
Martin Oehlen
Jill Lepore: „Diese Wahrheiten – Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika“, dt. von Werner Roller, C. H. Beck, 1120 Seiten, 39,95 Euro. E-Book: 33,99 Euro.
Pingback: Blogbummel Oktober 2019 – buchpost