„Deine kalten Hände“ ist ein faszinierend bizarrer Künstlerroman der Koreanerin Han Kang

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Foto: Bücheratlas

Die Schriftstellerin H. hat Post bekommen. In ihrer Einzimmerwohnung im koreanischen Gwangju hält sie das Manuskript eines Mannes in Händen, das sie zunächst nicht aufschlagen will – und dann doch in einer Nacht durchliest. Was der Bildhauer Jang Unhyong vor seinem plötzlichen Verschwinden zu Papier gebracht hat, ist eine kühl beeindruckende Geschichte von Verletzung und Aufbegehren, von Verbergen und Entblößen, von Kunst und Bulimie. Auslöser für seine Erzählung ist die Frage eben jener Schriftstellerin H., die er zufällig bei einem Abendessen getroffen hatte: „Warum?“ Warum er die Kunst so mache, wie er sie mache: Gipsabdrücke von realen Körpern. Dass diese Frage nicht zu beantworten sei, jedenfalls nicht von ihm, das stellt Unhyong gleich am Anfang seines Berichts fest. Aber ein paar Hinweise gibt er auf den folgenden rund 300 Seiten dann schon noch.

„Deine kalten Hände“ ist der neue Roman der Koreanerin Han Kang. „Neu“ ist er allerdings nur für uns. Denn in Han Kangs Heimat ist der Roman bereits 2002 veröffentlicht worden. Die Autorin schreibt in einem Nachwort, was dieser Text, den sie eine Weile hatte ruhen lassen und den sie erst nach zwei Jahren wieder aus der Schublade geholt hatte, mit ihr gemacht habe: „Während der zwölfmonatigen Arbeit verging die Zeit in einem anderen Tempo. Der Roman, der in mir wohnte, veränderte mich. Er veränderte meinen Blick, meine Art zu hören und zu lieben. Still brachte er meine Seele an Orte, an denen sie noch nie gewesen war.“

Ehemann topft Ehefrau ein

Ob es den Lesern von „Deine kalten Hände“ auch so ergehen mag? An ungewöhnliche Orte gelangen sie auf jeden Fall. Das scheint eine Spezialität aus Fernost zu sein, eine Art asiatischer Surrealismus, der unsere literarische Gegenwart bereichert. Erzählt werden Geschichten, die versehen sind mit allen Anzeichen des Realismus; doch dass der Boden, auf dem die Szenen spielen, keineswegs fest und sicher ist, wird schnell spürbar. Dank findiger Lektoren und zuverlässiger Übersetzer leuchten die oft entschieden anders intonierten Romane aus dem fernen Asien mittlerweile recht regelmäßig auch bei uns. Klar, vorneweg ist der Japaner Haruki Murakami erfolgreich, in dessen Werken die Wirklichkeit kombiniert wird mit einer zweiten Ebene, auf der die Gesetze der Schwerkraft und der Vernunft nicht mehr gelten. Das sind willkommene Irritationen. Aber auch Hang Kang bietet angenehm verstörenden Lesestoff, wenngleich bei ihr die Verwerfungen in den Personen selbst zu finden sind.

Das hat sie hierzulande erstmals mit dem Roman „Die Vegetarierin“ unter Beweis gestellt, der in ihrer Heimat bereits 2007 und bei uns im Jahre 2016 erschienen ist. Es ist die Geschichte einer scheinbar durchschnittlichen Frau, die plötzlich kein Fleisch mehr essen will – was als Ausdruck weiblichen Protests gegen Gewaltanwendung zu lesen ist, in diesem Falle geht es um die Gewalt an Tieren. Und dann beschließt die Frau zur Verblüffung ihres langweiligen Gemahls auch noch, ein Baum zu werden, der nur Sonne benötige. Zuvor schon hatte Han Kang eine Erzählung veröffentlicht, in der eine Frau tatsächlich zur Pflanze mutiert: Der Ehemann topft sie ein und gießt sie regelmäßig.

Der Erfolg der „Vegetarierin“ war groß und gerechtfertigt – unter anderem gab es dafür den Man Booker International Prize. 2017 legte der Aufbau-Verlag mit dem Roman „Menschenwerk“ nach, worin eine umherschwirrende Seele das Wort ergreift. Für dieses Buch erhielt Han Kang den italienischen Malaparte-Preis.

Nun erzählt die Koreanerin die Geschichte von Jang Unhyong. Der lässt sich als Künstler und als Liebhaber auf zwei Frauen ein, die nur mit den Anfangsbuchstaben L. und E. bezeichnet werden. Was alle drei verbindet, ohne dass sie es wissen, sind unterschiedliche Schatten aus der Kindheit, die sie lebenslang zu verfolgen scheinen. Es sind Außenseiter der Gesellschaft. Unhyong selbst denkt: „Ich bin in dieser Welt doch nichts anderes als ein Außerirdischer.“ So erzählt Han Kang auch hier von Menschen, die aus dem gesellschaftlichen Einheitsschema herausfallen – sei es nun aus freien Stücken oder notgedrungen.

Hände gelten als zweites Gesicht

Der Bildhauer ist spezialisiert auf Gipsabdrücke von realen Menschen, auf sogenannte Lifecastings. Das ist nicht nur ein intimer, sondern auch schmerzhafter Prozess der Körperabformung. Bei L. sind es zunächst ihre feinen Hände, in die er sich verliebt und die er unbedingt als Skulptur gestalten will. Denn Hände sind für ihn wie ein zweites Gesicht. Aber bald schon ist er ihrem ganzen Körper verfallen. Dessen Fülle ist freilich erheblich: rund 100 Kilo auf 165 Zentimetern. „Es war ein Fest der Sinne“, schreibt er, „von dem ich kaum glauben konnte, dass es Sex mit nur einer Frau war.“

Doch da gab es noch ein Geheimnis: „Etwas Furchtbares lauerte in ihr.“ Ihr unmäßiges Essen war eine Reaktion darauf. Die Fettschicht als Schutzschicht.

Als sich L. dann in einen anderen Mann verliebt, nimmt sie radikal ab. Aber das gelingt nur unter enormen, lebensbedrohenden Qualen: Abführmittel, Erbrechen, Schlaftabletten. Sie findet in die neue Beziehung, aber die ist nicht von Dauer. „Ich könnte verrückt werden“, sagt sie zu Unhyong. „Die Leute wissen nicht, wie schnell das geht.“

L. arbeitet in einem Fast-Food-Lokal, dann in einem Videoshop. E. hingegen, die nächste Frau in Unhyongs Leben, ist eine erfolgreiche Innenarchitektin, die mit seinen Skulpturen eine fremde Wohnung schmücken möchte. Sie wirkt stark, sonderbar und undurchdringlich. Und auch sie hat ein Geheimnis, von dem wir hier schweigen wollen.

Unhyong ist ihr so sehr verfallen, dass er ankündigt: „Ich werde meinen Sarg aus deinem Körper machen.“ Aus dem Gipsabdruck, versteht sich. Als sich E. als Modell zur Verfügung stellt, kommt es zur Eskalation. Ein Messer am Hals. Schaum auf verzerrten Lippen. Augen, von denen man nur noch das Weiße sieht. Blut fließt. Dann liegen sie gemeinsam im Bett.

Die Häutungen sind qualvoll

Schon als Kind hatte Unhyong die Vermutung, dass jeder Mensch etwas verberge. Damals brannte er darauf, den Menschen die verletzliche Hülle abzuziehen, um ihr Innerstes zu sehen. Aber auch er selbst ist erfahren im Verbergen. Er hatte früh gelernt, „unbedingt die Erwartungen meiner Umwelt zu erfüllen und niemals meine wahren Gefühle zu zeigen.“ Schalen, Masken, Hüllen – was sich die Protagonisten als Schutz zugelegt haben, geht in diesem Roman zu Bruch. Die zahlreichen Gipsabdrücke obendrein. Sämtliche Nervenstränge werden strapaziert, die physischen wie die psychischen. Die Häutungen sind qualvoll. Aber womöglich hilfreich.

Han Kangs Frühwerk „Deine kalten Hände“ ist ein ruhig erzähltes Kunststück um Schuld und Schönheit, um Gewalt und den Schmerz, den man sich selber zufügt. Der Roman hat nicht die Intensität und souveräne Geschlossenheit der „Vegetarierin“. Auch werden die Beweggründe für das Verhalten der drei Hauptfiguren recht plakativ präsentiert. Aber attraktiv und alles andere als konventionell ist der Gang der Geschichte gewiss. Behutsam lüpft die Autorin die Masken ihrer Protagonisten. Zugleich bleibt der Roman hinreichend verrätselt, um die die Phantasie der Leser zu inspirieren. All dies sind gute Gründe, sich auf die Lektüre einzulassen.

Martin Oehlen

http://www.ksta.de

Lesung mit Han Kang am 15. Mai um 19.30 Uhr im Museum für Angewandte Kunst in Köln (An der Rechtschule). Veranstalter ist das Kölner Literaturhaus.

Han Kang: „Deine kalten Hände“, dt. von Kyong-Hae Flügel, Aufbau, 314 Seiten, 22 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

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