Michel Houellebecqs Abgesang auf Frankreich und einen Mann wie – nun ja

 

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Foto: Bücheratlas

Doktor Azote versucht sich in Paris an einer Diagnose, und seine Lippen zittern ein wenig, als er sie formuliert: „Ich habe den Eindruck, Sie sind schlicht dabei, vor Kummer zu sterben.“ Florent-Claude Labrouste, der seine beiden Vornamen nicht mag, ist darüber wenig bestürzt. Weiß er doch selbst, wie es um ihn bestellt ist. Aber zum Arzt muss er nun mal, wenn er an sein Antidepressivum namens Capotrix gelangen will. Das gibt es nicht ohne Rezept. Aber wie konnte es nur so weit mit ihm kommen, wie konnte er so tief fallen?

Davon erzählt Michel Houellebecq in „Serotonin“, seinem neuen, bannenden und womöglich besten Roman. Schon wird der Autor in Frankreich, wo der Roman nur wenige Tage vor der deutschen Ausgabe erschienen ist, als „Visionär“ besungen. Denn bereits zuvor hatte Houellebecq in seinen Werken Szenen imaginiert, die dann einen mehr oder weniger eindeutigen Wiederhall in der Realität fanden. So schilderte er 2001 in dem Roman „Plattform“ den Anschlag auf ein asiatisches Touristenziel – nur ein Jahr vor dem Anschlag in Kuta auf Bali, dem 202 Menschen zum Opfer fielen. Danach widmete er sich 2015 in „Die Unterwerfung“ der Transformation Frankreichs in einen Gottesstaat mit Schleier-Pflicht; als das Buch erschien, überfielen islamistische Killer die Redaktion von „Charlie Hebdo“, die just an dem Tag ihre neue Ausgabe mit einer Karikatur von Houellebecq auf dem Cover herausgebracht hatte. Und nun?

Labrouste, der Ich-Erzähler, ist ein Landwirtschaftsexperte. Wie sein Autor Michael Houellelbecq hat er Agrarwissenschaften studiert. Danach war Labrouste zunächst tätig für das Unternehmen Monsanto, dann wechselte er in eine staatliche Behörde, gelangte als Experte ins einschlägige Ministerium und war auch in Brüssel aktiv. Keine Frage: der Mann kennt sich auf seinem Gebiet aus. Aber an der Agrar-Krise vermag auch er nichts zu ändern. Ein ums andere Mal bekennt er seine Ohnmacht, sein Scheitern.

Eines Tages muss er seinem einzigen Freund reinen Wein einschenken. Da geht es um die Milch, die dieser Aymeric auf seinem Landgut produziert. Die ist immer weniger wert. Die Bauern der Region sind in Rage. Labrouste sagt, was Sache ist: In der französischen Landwirtschaft könne es nur noch um Entlassungen gehen. Und selbst wenn man sich auf ein europäisches Maß gesundgeschrumpft habe, sei das trotzdem keine Perspektive, denn „die Schlacht der weltweiten Produktion werden wir nicht gewinnen.“ Wenig später blockiert Aymeric mit weiteren Aktivisten der Bauerngewerkschaft die Autobahn nach Paris. Sie sind bewaffnet. Die Polizei fährt mit Panzerfahrzeugen vor. Erst fällt ein Schuss, mit dem Aymeric sich umbringt, dann folgt ein Schusswechsel. Zehn Tote insgesamt. Da denkt man in Frankreich sogleich an die gewalttätigen Proteste der „Gelbwesten“. Auch in deren Verlauf kam es jüngst zu Todesfällen.

Diese wirtschafts- und sozialpolitische Erzählung ist aber nur ein starker Strang des Romans. Erneut lässt Houellebecq keinen Zweifel daran aufkomme, welche sexuellen Vorlieben seine Hauptperson hegt. Labrouste lässt kaum ein Detail seines Geschlechtsverkehrs unerwähnt. Zumal die Japanerin Yuzu, seine im erzählerischen Kontext letzte Partnerin, bietet ihm allerlei Gelegenheit dazu. Auch gibt er ihr gegenüber den Monster-Macho. Mit Liebe hat das alles nichts zu tun.

Eine Liebeserklärung für Claire in Caen auf Bahnsteig C

Aber da waren ja auch noch Claire, die Dänin Kate und vor allem Camille, die er in Caen am Bahnsteig C erstmals gesehen hat und auf die er – pardon – das hohe C anstimmt. Gut möglich, dass Houellebecq noch nie zuvor in seinen Werken eine solch ausführliche Liebeserklärung geschrieben hat. Der Autor, der bislang nicht berüchtigt war für differenzierte Frauenporträts, zeigt sich hier von einer neuen Seite. Mehrfach betont er, noch nie so glücklich gewesen zu sein. Da fällt uns ein: Kürzlich erst hat Houellebecq die Chinesin Lysis Li geheiratet – die Fotos davon hatte Carla Bruni gepostet.

Labroustes große Liebesbeziehung zerbrach, als Camille ihn zufällig mit einer anderen Frau erblickte. Der Roman schildert, wie er sich auch noch Jahre später nach ihr verzehrt. Da ist sie Tierärztin und lebt alleine mit einem Sohn aus anderer Beziehung in einem abgelegenen Haus. Labrouste beobachtet sie wochenlang, aber weiß, dass das Kind immer zwischen ihnen stehen würde. Labrouste, der mit einem Gewehr umzugehen weiß, denkt das Äußerste: „entweder er oder ich.“ Doch den Mord an dem Jungen begeht er dann doch nicht. Er weiß, er wird Camille nie mehr zurückgewinnen.

Das Antidepressivum benötigt er mehr denn je. Dessen Nebenwirkungen sind allerdings: „Übelkeit, Libidoverlust, Impotenz“. Der Erzähler stellt fest: „Unter Übelkeit habe ich nie gelitten.“ Tja. Labrouste vereinsamt vollkommen. Auf Gottes Hilfe baut er erst gar nicht und dann doch wieder. Sterbehilfe lehnt er ab. Alkohol hilft nur bedingt.

Wer ist dieser Labrouste? Nach eigenen Angaben: „ein substanzloses Weichei.“ Ein Mann, der seine Unfähigkeit bewiesen habe, das Leben in die Hand zu nehmen. Er ist „angewidert von der Nichtigkeit“ seiner Arbeit. Ja, erfrischend ist, dass sich Labrouste selbst nicht schont. Alles andere wäre aber auch peinlich. Denn der Erzähler ist ein Freund der Schmährede. Er lässt – abgesehen von Camille – kaum jemanden ungeschoren davonkommen. Nicht die Japaner („der Engländer ist fast so ein Rassist wie der Japaner“) oder die Holländer („ein Volk polyglotter Kaufmänner und Opportunisten“), nicht Paris („diese von umweltbewussten Kleinbürgern verseuchte Stadt“) oder die französischen Behörden („maximale Beschränkung der Lebensmöglichkeiten“) und auch nicht die Literatur – „dieses alte Rindvieh Goethe“ ist für ihn „einer der grauenvollsten Schwafler der Weltliteratur“.

„Serotonin“- der Titel bezieht sich auf jenes die Stimmung regelnde Gewebshormon, das von Antidepressiva beeinflusst werden kann – ist also alles andere als ein trübsinniger Roman. Seinem Helden zum Trotz. Ja, zuweilen ist der Roman ein schwarzer, sarkastischer Spaß. Dabei wird die Leserschaft stets im Blick behalten: Mal wird sie informiert, dass man nicht vorweggreifen wolle, mal wird an ihr Namensgedächtnis appelliert. Dann wird über die mögliche Resonanz räsoniert: „Man wird mir vielleicht vorwerfen, ich würde dem Sex zu viel Bedeutung beimessen; das glaube ich nicht.“

Die Zigarette und der Rauchmelder

Es ist auch der Roman eines Rauchers wie Houellebecq einer ist. Gleich auf der ersten Seite wird die Sucht beschrieben: „Nikotin ist eine perfekte Droge, eine simple und harte Droge, die keinerlei Freude auslöst, die ganz vom Mangel und dem Abstellen des Mangels bestimmt ist.“ Labrouste sieht sich einer Umwelt ausgesetzt, die den Raucher mehr und mehr ächtet. Schon ist es eine Herausforderung geworden, ein Hotel zu finden, in dem man rauchen darf. Manchmal hilft ihm nur die Zerstörung des Rauchmelders. Man sieht: der Mann ist wirklich am Ende.

Oder doch nicht? Immerhin zieht Labrouste hier eine facettenreiche Bilanz seines Lebens. Wohl um sich zu vergewissern, dass er gelebt habe. Und Michelel Houellebecq hat ihm – wie man so sagt – die Feder geführt. Frankreichs ebenso umstrittener wie faszinierender Starautor brennt ein erzählerisches Feuerwerk ab. Das leuchtet auch im Detail, wenn etwa ein Barkeeper in der Provinz seine Tageszeitung „mit nahezu priesterlicher Langsamkeit“ liest. Den Brexit stellt Houellebecq im Übrigen auf Seite 175 als vollzogen dar – aber für einen solchen Vorgriff in die Zukunft muss man wohl kein Visionär sein.

Es sind provokante und poetische Momente zuhauf, die sich hier zu einem kraftvollen Roman verbinden. Es ist ein weiterer Abgesang auf Frankreich. Und ein neuerliches Porträt des Mannes als traurige Gestalt. Ein literarisches Ereignis.

Martin Oehlen

http://www.ksta.de

Michel Houellebecq: „Serotonin“, dt. von Stephan Kleiner, DuMont Buchverlag, 336 Seiten, 24 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

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