
Fotos: Bücheratlas
Wo gibt es denn noch so etwas! Einen Roman, der gut ausgeht. Jedenfalls für die beiden Hauptfiguren, den Viehhirten Jakob und die Bauerntochter Marie-Françoise gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Das darf verraten werden, denn wie es dazu kommt, lohnt allemal die Lektüre. Dabei fängt die Geschichte in unserer Gegenwart an, bei einem Schneetreiben auf einem Schweizer Pass. Max und Tina umfahren eine Straßensperrung, ignorieren die ersten Schneeflocken, verpassen auch alle weiteren Chancen zu einem vernünftigen Fahrverhalten und zurück ins Tal zu rollen. Sie folgen vielmehr einer Anwandlung von zivilem Ungehorsam, bis ihr Wagen im Schnee feststeckt. Dann kommt die Nacht.
Was macht man, wenn man alleine in einem Toyota Corolla sitzt und darauf warten muss, dass am nächsten Morgen der Schneepflug kommt? Max kennt eine Geschichte, und die erzählt er nun seiner Frau und erzählt sie auch uns. Die handelt von dem armen Hirten Jakob Boschung und der Tochter des strengen Bauern Magnin, die sich eines Tages mit der Wucht eines Urknalls ineinander verlieben: „Wie ein Blitz durchfährt sie beide die Erleuchtung, auf einen Schlag wird ihnen alles, wirklich alles klar…“ Doch der Hirte sei keine gute Partie, meint der Bauer aus dem Greyerzerland, und treibt ihn erst einmal vom Hof. Marie freilich ist nicht von gestern. Ihre Liebe lässt sich nicht von der väterlichen Autorität verklappen.
„Königskinder“ des Schweizer Schriftstellers Alex Capus, der 1961 in Frankreich geboren wurde, ist in der Schweiz so gut angekommen, dass der Titel dort die Bestsellerliste stürmte. Sein moderner Heimatroman taugt aber auch weit über die Alpen hinaus für entspannte Unterhaltung. Schnell fühlt sich der Leser eingebunden in die intime Erzählsituation. Er sitzt gleichsam auf der Rückbank des eingeschneiten Wagens und erfährt viel über das eheroutinierte Paar aus dem Hier und Heute und noch mehr über das junge Glück aus der Vergangenheit.
Die Pippi Langstrumpf der Bourbonen
Während draußen die Kälte triumphiert, wärmt drinnen die Liebesgeschichte. Wenn diese einmal kitschig zu werden droht, spricht Tina es aus, noch bevor der Leser selbst den Satz in Gedanken formuliert hat. Sie ist eine strenge Zuhörerin, die den Hirten als „Alpentarzan“ bezeichnet und überhaupt ihren erzählenden Ehepartner des Öfteren zur Rechenschaft zieht: Warum er der Nebenfigur Mathilde einen „flachen Hintern“ und „schiefe Zähne“ verpasse. Ob das alles stimme. Und dass er all die Daten und Details behalten könne, sei doch nicht normal: „Manchmal denke ich, du bist ein bisschen autistisch.“ Max lässt sich von solchen Foppereien nicht aus der Ruhe bringen. Er beteuert ungerührt, dass dies „eine wahre Geschichte“ sei. Er habe in Archiven recherchiert, könne Belege liefern. Auch die Ereignisse am Hof von Versailles im Revolutionsjahr 1789 seien wahr. Weil die Kühe der Prinzessin Elisabeth („die Pippi Langstrumpf der Bourbonen“) nur wenig Milch geben, also unglücklich zu sein scheinen, wird der Hirte mit dem formidablen Ruf herbeibefohlen. Und selbstverständlich gelingt es ihm nach einigem Geflüster mit der Leitkuh, dass die Milch fließt wie nie zuvor. Doch dann zeigt sich, dass nun Jakob die Nase hängen lässt. Da hat die Prinzessin, die auf ihrem Puppenstuben-Bauernhof alle Lebewesen, nicht nur die Kühe glücklich sehen will, eine Idee.
Alex Capus erzählt sein Schweizer Märchen leichtfüßig und anschaulich, mit sanften Brüchen und intensivem Sog. Fast möchte man bedauern, dass der Tag anbricht und dem Erzählen ein Ende setzt wie einst der Scheherazade. Wenn Reisende in einer Winternacht beisammen hocken, dann sind dabei schon oft sehr schöne Geschichten herausgekommen. Alex Capus fügt ihnen eine weitere Attraktion hinzu.
Martin Oehlen
Alex Capus: „Königskinder“, Hanser, 188 Seiten, 21 Euro. E-Book: 15,99 Euro.