Michael Köhlmeier folgt einem Tiger namens Homer

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Michael Köhlmeier (links am Tisch) im Alten Pfandhaus in Köln Foto: Bücheratlas

Der nächste Kölner Termin mit Michael Köhlmeier ist schon gesichert. Bei der Vorstellung  seines neuen Romans  „Bruder und Schwester Lenobel“ im Alten Pfandhaus hielt der österreichische Erzähler plötzlich inne und rief der Literaturhauschefin im Publikum zu: „Ihr müsstet unbedingt mal einen Abend über Märchen machen!“ Um dann gleich die Frage hinzuzufügen: „Darf ich dann dabei sein?“ Darüber musste Bettina Fischer nicht zweimal nachdenken. So versicherte sie am Ende der feinen Veranstaltung, wie sehr sie sich schon auf diesen Märchenabend freue.

Zuvor hatte Köhlmeier erläutert, dass seiner Ansicht nach Märchen „die Primzahlen der Literatur“ seien. „Ein Schriftsteller, der sich nicht für Märchen interessiert, ist wie ein Schreiner, der sagt, Holz interessiere ihn nicht“. Was freilich all die schrecklich schönen Märchen bedeuten, die in seinem Roman ein jeweils neues Kapitel einleiten, vermag auch er nicht zu erklären. Aber das sei genau richtig so. Kunst komme nicht aus ohne einen Rest Rätselhaftigkeit.Wo alles entschlüsselt und zerlegt werden könne, drohe Langeweile.

Michael Köhlmeier ist ein begnadeter Erzähler. Dies bestätigt er nicht nur in seinen Romanen, sondern auch, wann immer er öffentlich auftritt. Was Ton und Timing bei Rede und Vortrag angeht, hat er womöglich schon einiges in der Kindheit gelernt. Die Großmutter hatte ihm einst Märchen vorgelesen – und zwar auf eine idealtypische Weise, wie er sagt. Sie fuchtelte nicht herum, sprach nicht mit dramatischer Stimme. Vielmehr erzählte sie monoton und immer leiser werdend – bis der Junge ihr schließlich auf dem Schoß saß, um der Erzählstimme möglichst nahe zu sein.

Ein Roman ist für Michael Köhlmeier wie ein Mobile. Allerdings keines, das aus lauter gleich langen Kleiderbügeln bestehe. Vielmehr müssten die Holme unterschiedlich lang sein, so dass neben schweren auch schmale Elemente zu entdecken seien, die alle zusammen ein stabiles Konstrukt ergeben. Vom jüngsten Mobile, in dem Bruder und Schwester Lenobel schweben, war vor allem die Rede an diesem Abend, den Ulrich Noller  moderierte. Die Romanfiguren sind auch schon in anderen Prosawerken des Autors aufgetaucht. Nicht nur Sebastian Lukasser, des Autors Alter Ego. Ebenso Robert und Hanna – in „Abendland, Madalyn und „Joel Spazierer“.  Und Jetti, die Schwester Lenobel, hatte schon ihre Auftritte in frühen Erzählungen. „In die Jetti“, sagt er jetzt, „habe ich mich ein bisschen verliebt. Also, die könnte mir gefallen.“

Von hier aus ging es ein ums andere Mal weit hinaus in die Literaturgeschichte. Tolstois „Anna Karenina“ ist für Köhlmeier „vielleicht der Roman der Romane“. Wie Thomas Mann aus dem schlichten Tagesablauf in den Bergen einen 1000-Seiten-Roman geschaffen habe – das könne nur ein Thomas Mann.  Kafkas „Amerika“-Fragment sei völlig  verwirkt und widerspreche allen Minimalanforderungen an einen Roman – „aber das ist ein Schlüsselroman der Weltliteratur“. Die Brüder Grimm sind für ihn „die deutschesten der deutschen Autoren mit einem Weitblick“. An sie komme nur noch Goethe heran. Homers „Odysee“ schließlich sei ihm ein Vorbild: „Warum soll man sich nicht ein Vorbild wie Homer nehmen? Wenn man eine Katze sein will, muss man sich vornehmen, ein Tiger zu werden.“  Es sei kein Größenwahn, sich ein großes Vorbild zu wählen. Eher sei dies der Fall, wenn man sich ein kleines Vorbild nehme, denn dahinter könnte die Erwartung stehen, dieses überflügeln zu können.

„Als junger Autor“, sagt er, „habe ich  versucht, den Figuren etwas vorzuschreiben. Das mache ich nicht mehr.“ Er wisse mittlerweile, dass er sich den Figuren anvertrauen müsse.  Gehe es um Dialoge, dann sei es am besten, wenn man nur noch mitschreibe, was die Protagonisten einander erzählten: „Wenn man dann Kaffee kochen gehen will, denkt man: Nein, das geht jetzt nicht, die reden in der Zwischenzeit weiter.“ So sei für ihn „beim Schreiben am Schönsten, wenn ich am Beginn der Seite nicht weiß, wie sie endet.“ Michael Köhlmeier möchte als Geschichtenschreiber ohne Routine auskommen.

Martin Oehlen

Michael Köhlmeier:  „Bruder und Schwester Lenobel“, Hanser, 540 Seiten, 26 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

Koehlmeier

Weitere Lesungen von Michael Köhlmeier aus dem aktuellen Roman im Jahr 2018:

Göttingen am 12. Oktober um 21 Uhr im Alten Rathaus (Literarisches Zentrum Göttingen);

Hamburg am 29. Oktober um 19.30 Uhr im Literaturhaus Hamburg;

Stade am 30. Oktober in der Buchhandlung Friedrich Schaumburg;

Aachen am 12. November im Aachener Dom;

Hannover am 22. November im Literaturhaus Hannover;

Münster am 23. November um 20 Uhr in der Stadtbücherei Münster;

Linz (Österreich) am 11. Dezember im Oberösterreichischen Literaturhaus im StifterHaus;

Graz am 12. Dezember im Literaturhaus Graz.

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