
Fromme Botschaft auf einer Eisbox Foto: Bücheratlas
In Mexiko-Stadt träumt Familie Arteaga vom schicken Italien-Urlaub. Eigens hat sie eine Sprachlehrerin engagiert, um so gut es geht auf Bella Italia vorbereitet zu sein. Das Leben ist nichts als schön, auch weil man es sich leisten kann. Ein unscheinbarer Satz freilich, dem der Leser auf Seite 26 begegnet, weist in eine andere Richtung. Es gibt eine Nachricht über „Grandpa“, den Patriarchen der Familie: „Er habe gestern das Büro verlassen, um zum Mittagessen zu gehen, und sei nicht wiedergekommen.“
Einerseits ist das kein Anlass, vor Sorge umzukommen. Wer weiß – womöglich hat der alte Herr eine neue Freundin. Andererseits spielt die Geschichte in der Hauptstadt jenes mittelamerikanischen Landes, in dem extreme Gewalt-Kriminalität zum Alltag gehört. Kidnapping inklusive. Genau davon handelt Antonio Ruiz-Camacho in seinem Debüt-Roman „Denn sie sterben jung“.
Nicht aus der Perspektive des Entführungs-Opfers erzählt er das Drama eines gequälten Landes, sondern er wendet sich den einzelnen Sektionen der Großfamilie zu – den Alten wie den Jungen. Sie nämlich ergreifen, als sie sich selbst nicht mehr in Sicherheit wiegen können, die Flucht ins Ausland, in die USA und nach Spanien. Die acht Geschichten sind stilistisch unterschiedlich intoniert. Das ist gewiss auch dem Entstehungsprozess geschuldet. Denn der Autor hatte zunächst begonnen, Kurzgeschichten zu schreiben. Erst nach der dritten von diesen fiel ihm auf, dass die handelnden Charaktere miteinander in Verbindung stehen, ja, dass sie verwandt sind. So fügt sich nun, was als Kurzstrecke gedacht war, zu einer literarischen Mittelstrecke zusammen – die man getrost Roman nennen darf.
Alle Geschichten handeln vom Versuch der Geflohenen, in der Fremde Fuß zu fassen. Das aber gelingt ihnen nicht. Im Spiegel der Ängste, des Heimwehs und der Ratlosigkeit der Familienmitglieder ist ein Staat zu erkennen, der seine Bürger nicht mehr zu schützen vermag. „Eines Tages“, sagt eine der Personen, „werden wir zurück in die Vergangenheit gehen“. Dann werde alles wieder so sein wie früher. Aber ehe es soweit ist, werden noch ein paar Meereswellen an der Küste Mexikos anbranden müssen.
Das ist, hat man das Mosaik-Prinzip erst einmal verinnerlicht, eine beklemmende Lese-Erfahrung. Zwar ist dies kein autobiographischer Roman, wie der Autor versichert. Doch dass Antonio Ruiz-Camacho, der einst als Journalist in Toluca gearbeitet hat, heute mit seiner Familie im texanischen Austin lebt, wundert einen auch nicht.
PS: Dem Roman angefügt ist, was auch nicht alle Tage geschieht, eine fünfseitige Danksagung. Dazu gehört die Liebeserklärung an Valentina: „Meine erste und letzte Leserin, mein Mantra, mein Zuhause. Die schönste Madrileña der Welt, die Plaudertasche aus Montevideo, die mir das Leben gerettet hat.“ Klingt wie der Anfang eines neuen, ganz anders gestimmten Romans.
Martin Oehlen
Antonio Ruiz-Camacho: „Denn sie sterben jung“, dt. von Johann Christoph Maass, C. H. Beck, 206 Seiten, 19,95 Euro. E-Book: 15,99 Euro.