
Das Strenge und das Freie – sie scheinen sich bei Elias Canetti zu bedingen. Jedenfalls bekommt diesen Eindruck, wer sich auf seine Briefe einlässt, in denen das Schwere und das Leichte Partner sind. Fotos: Bücheratlas
Elias Canetti wird nachgesagt, dass er einen durchaus anspruchsvollen Charakter hatte. Daher fühlt man sich sogleich aufs Beste eingestimmt, wenn eine über 800 Seiten umfassende Sammlung seiner Briefe den schneidigen Titel „Ich erwarte von Ihnen viel“ trägt. Tatsächlich musste jeder, der sich auf einen Briefwechsel mit dem bedeutenden Autor („Die Blendung“, „Masse und Macht“, „Fackel im Ohr“) eingelassen hat, wohl gerüstet sein. Susie Ovadia-Benedikt, die den ihr privat bekannten Autor wegen eines Vorabdrucks aus dem autobiographischen „Das Augenspiel“ kritisiert hatte, bekam dies solcherart zu spüren: „Liebe Susie, ich hätte nie gedacht, dass sie solcher Gemeinheit fähig sind. Ihr Brief, der ordinärste, den ich je in meinem Leben gesehen habe, verdient keine Antwort. Ich schreibe trotzdem, weil ich weiß, wie sehr Sie sich dieses Briefes schämen werden, wenn Sie das ganze Buch gelesen haben.“
Wer nun freilich erwartet, dass dieser Band ein Füllhorn an Sottisen und Schmähungen sei, muss enttäuscht werden. Im weit überwiegenden Teil sind es Texte, die sich in vollkommener Seriosität den Adressaten zuwenden. Knapp 600 Briefe sind es, die Sven Hanuschek und Kristian Waschinger zusammengestellt haben, und von denen sie sagen, dass sie den Weg des Denkers und Chronisten aufzeigen „vom Künstler-Faun über den Emigranten-Guru zum späten Familienvater“. Zuvor waren schon zwei Briefbände des Autors erschienen, unter anderem jener mit Schreiben an seinen Bruder Georges. Diese Texte kommen hier nicht ein zweites Mal vor. Vor allem von der Literatur ist jetzt die Rede, noch mehr vom Veröffentlichen.
Der Postverkehr setzt in diesem Buch im Jahre 1935 ein, mit einem ersten Schreiben an Hermann Kesten: „An Ihrem Brief habe ich mehr Freude gehabt, als mir zukommt.“ Und er endet im August 1994 mit einigen Zeilen an den Schweizer Verleger Daniel Bodmer, in dem der 89-jährige Schriftsteller eine Engadin-Reise für den übernächsten Tag ankündigt. Doch schon am folgenden Tag ist Elias Canetti nicht mehr unter den Lebenden.
Die wohl innigste postalische Verbindung, die der Band offenbart, beginnt im November, als er sich an Herbert Göpfert wendet, seinen Lektor bei Hanser, dem er bald schon bestätigt: „Ohne Sie wäre ich noch heute in der deutschen Literatur nicht-existent…“. Das Vertrauen und die Zuneigung halten über die Jahrzehnte an, auch dann noch, als Göpfert nicht mehr im Verlag arbeitet. Ihm vertraut er Persönliches an, das anderen noch vorenthalten wird. So auch die heimliche Hochzeit mit Hera im Jahre 1972: „Ich wünsche mir sehr ein Kind von ihr.“ Um wenig später hinzuzufügen: „Ich werde natürlich auch weiterhin in meiner Arbeit nicht die geringsten Kompromisse machen, das könnte ich gar nicht anders …“ Und als Canetti dann, mittlerweile stolzer Vater, 1981 mit seiner Frau zur Verleihung des Literaturnobelpreises nach Stockholm fliegt, hinterlässt er Göpfert einen Brief. Doch der sollte diesen nur öffnen, wenn das Flugzeug abstürzen und die Canettis nicht überleben sollten. Im anderen, dann auch eintretenden Falle, sollte der Brief ungeöffnet retour geschickt werden. Hier wie auch an anderen Stellen bedauert der Leser, dass er nicht auch die jeweils andere Seite der Korrespondenz zu Gesicht bekommt, sondern eben nur das, was Canetti schreibt, worauf er reagiert, was er anregt.
Hans Bender, Herausgeber der Zeitschrift „Akzente“, ist Canettis Verbindung nach Köln. Mit Günter Kunert tauscht er sich über den Freitod von Salvador Allende aus und sagt über den Chilenen: „So gehört er zu den wenigen öffentlichen Figuren, die man ernst nehmen muss, es gibt nicht viele.“ Canetti ist ein politischer Kopf, der 1974 seinen Münchner Verlag wissen lässt: „Der Sturz der griechischen Diktatur regt mich so glücklich auf, dass ich heute nichts anderes schreiben kann als Briefe.“
Es finden sich viele verbindliche Worte in diesen Briefen, gerade auch, wenn er wieder mal ein Interview absagt oder einen Gastbeitrag ablehnt. Aber gewiss: Canetti konnte auch zulangen. Über Hilde Spiel als Theaterkritikerin sagt er: „Sie ist noch viel dümmer, als ich immer annahm.“ Und an Thomas Bernhard schreibt er, dass dieser „immer blindwütig“ auf Kritik reagiere und niemanden habe, der ihm die Wahrheit sage. Allerdings blieb es hier nur bei einem Briefentwurf. Ein Lob, das er Robert Schneider zu dessen Buch „Schlafes Bruder“ schickt („Ich habe es mit Staunen und Freude gelesen.“), kassiert er später und stuft es herab zum Versuch einer Ermunterung.
Susie Ovadia-Benedikt, die den „ordinärsten“ Brief abgeschickt hatte, schrieb dem Autor übrigens noch einmal. Da hatte sie offenbar das ganze „Augenspiel“ gelesen. Und blieb bei der Kritik an Canettis Darstellung ihres Vaters. Der zeigte sich daraufhin nun doch beeindruckt. Und gelobte, bei den anstehenden Übersetzungen des Romans für Streichungen zu sorgen. Ebenso bei einer Neuauflage der deutschen Ausgabe. Canetti mag streng gewesen sein, aber nicht versteinert.
Martin Oehlen
Elias Canetti: „Ich erwarte von Ihnen viel“, herausgegeben von Sven Hanuschek und Kristian Wachinger, Hanser, 864 Seiten, 42 Euro.