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Mit einer stillen Explosion beginnt ein meisterliches Werk: „Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherweise Kriminelle waren.“ Um ein wenig Licht in dieses Dunkel zu werfen, bedarf es eines ganzen Romans. Denn Geheimnis, Verschwiegenheit und Risiko sind es, die die Welt der Spionage prägen. Vorzüglich gelingt es Michael Ondaatje, diese Atmosphäre in „Kriegslicht“ zu vermitteln. Anspannung und Melancholie vermischen sich zu einer Melange, von der der Leser nicht lassen mag.
Nathaniel, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs 14 Jahre alt, und seine fast zwei Jahre ältere Schwester Rachel werden den zeitweiligen Verlust der Eltern, die angeblich von London aus geschäftlich für eine Weile nach Singapur verreisen mussten, nicht verwinden. Zwar kümmern sich „der Falter“ und „der Boxer“, der eine ein umtriebiger „Mann der vielen Türen“ und der andere ein Schmuggler von Windhunden, um ihre Schützlinge. Auch kehrt die Mutter zurück, als den Kindern Gefahr droht; der Vater freilich bleibt, wo er ist, wohl auch, weil das Band der Ehe allzu fadenscheinig war. Doch das Zurückgelassenwerden, das mit einer Notlüge begründet wird, bleibt für die Kinder ein lebenslanger Schatten, eine traumatische Erfahrung.
Der kanadische Schriftsteller Michael Ondaatje, der am 12. September 1943 in Sri Lanka geboren wurde, lebte ein paar Jahre mit seiner Mutter in London, ehe er 1962 nach Kanada zog und Staatsbürger des Landes wurde. Er ist einer der großen Autoren der gegenwärtigen Weltliteratur. Im Juli 2018 wurde sein Roman „Der englische Patient“, der bei Erscheinen im Jahr 1992 den Booker Preis erhalten hat, mit dem „Golden Booker Prize“ ausgezeichnet, einer Ehrung aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der literarischen Auszeichnung. Da gibt es einige Parallelen, die sich in Stimmung und Ton und Thema zwischen diesem Ondaatje-Klassiker und seinem jüngsten Werk finden lassen. Wer den „Englischen Patient“ zu schätzen wusste, dessen Verfilmung aus dem Jahre 1996 mit neun Oscars bedacht wurde, sollte die Lektüre von „Kriegslicht“ keinesfalls versäumen.
Nathaniel, der Erzähler, ist bemüht, die Vergangenheit der Mutter zu erkunden. Dass sie dem britischen Geheimdienst diente, wird bald schon offenbart, und manches mehr, das hier nicht verraten werden soll: „Es wurde uns klar, dass meine Mutter über ungeahnte Talente verfügte.“ Die Mutter selbst schweigt in bester Secret-Service-Tradition bis zum Schluss. Nicht zuletzt, um die Kinder zu schützen. Denn die Gefahr, entführt zu werden oder eines gewaltsamen Todes zu sterben, ist auch nach dem Krieg noch hoch. Jedenfalls für eine wie Rose Williams, die den Decknamen Viola trug und die offenbar an politischen Morden beteiligt gewesen war. Da ist das Risiko auch für jene enorm, die ihr nahestehen.
Später arbeitet Nathaniel beim Außenministerium, was ihm manche Akten-Einsicht ermöglicht. Und er hört sich um. Er findet Fragmente einer vergangenen Geschichte. Er stößt auf Namen von Eingeweihten, auch auf den eines Liebhabers. Doch nicht alle Schleier kann er heben. Die Vergangenheit ist nicht vergangen, pappt fest an der Gegenwart, ist allerdings nur schwer zu packen.
Ondaatje ist ein Maestro der leisen Töne. Mit Bravour, feinnervig und nie aufdringlich, vermag er die sanften Schwingungen und das kaum wahrnehmbare zwischenmenschliche Zittern kenntlich zu machen. Die Entfremdung der Geschwister, die eher beiläufig erzählt wird, gehört zu den anrührendsten Momenten des Romans. Und die Ungewissheit der unmittelbaren Nachkriegszeit, als das schwer verwundete Europa sich nur langsam wieder aufrappelte, wird nahezu körperlich erfahrbar.
„Kriegslicht“, diese Geschichte von Liebe, Verlust und Einsamkeit, ist bewegend in der Substanz und spannend im Verlauf. Eine Geschichte, bei deren Niederschrift Nathaniel manchmal meint, „als schriebe ich bei Kerzenlicht“.
Martin Oehlen
Michael Ondaatje: „Kriegslicht“, dt. von Anna Leube, Hanser, 320 Seiten, 24 Euro. E-Book: 17,99 Euro.
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