
Der ganze Hokusai (1760–1849) soll es sein! Der Ganze? Nein, das wäre wohl zu viel des Guten. Vielmehr: das Vorhaben grenzte ans Unmögliche. Denn vom japanischen Meister ist eine solche Vielzahl an Werken auf uns gekommen, dass – wie Andreas Marks nun schreibt – noch „niemand den mühsamen und kaum beneidenswerten Versuch unternommen“ habe, die Arbeiten zu zählen. Die einschlägigen Schätzungen gehen in die Zehntausende. Und daher trägt die Ankündigung des Prachtwerks im Taschen Verlag eine Klammer: „The (almost) complete Hokusai“ – Der (nahezu) komplette Hokusai.
Das Rauschen der Bilder
Es sind schon zahlreiche Bildbände zum Werk des Künstlers erschienen. Auch im Taschen-Verlag (worauf wir auf diesem Blog HIER eingegangen sind). Doch einen solchen Band, so wird selbstgewiss versichert, hat es noch nicht gegeben: „Das vorliegende Buch präsentiert weit mehr Werke als die bislang ausführlichsten Veröffentlichungen zu dem Thema und stellt damit Hokusais Gesamtwerk in völlig neuem Maße vor.“
Die Bilderwelt, die sich dem Betrachter eröffnet, vermittelt ein herrliches Rauschen. Die Motive sind mal mit kraftvollem Strich, mal fein ziseliert gestaltet; mal kommen sie deftig daher, mal poetisch und auch komisch. Eine Augenweide sind die Porträts. Und manche Darstellungen gleichen Wunderkammern, in denen es vieles zu sehen gibt. Allemal sind diese Werke vorzüglich reproduziert.


„Erdkirsche“ ist das Porträt der beiden Frauen überschrieben (New York, The Metropolitan Museum of Art, Rogers Fund); der Schauspieler Iwai Hanshirō V ist in der Rolle des Sukeroku dargestellt (Minneapolis Institute of Art, Gift of Louis W. Hill, Jr.). Fotos: Taschen Verlag
Schauspieler und Schönheiten
Aber auch die Texte können sich sehen lassen – also lesen lassen. Andreas Marks bietet eine anregende und überzeugende Darstellung von Kunst und Künstler, von Zeit und Zeitgenossen. Der Einfluss auf die Kollegen des Westens – auf Degas, Pissarro, Monet oder Gauguin – kommt ebenso zur Sprache. Angenehm bei alledem ist der kritische Blick auf zweifelhafte Zuschreibungen einiger Werke wie auf die farbenfrohen Legenden, die oft auf der prominenten, jedoch wenig faktenbasierten Biografie von Iijima Kyoshin aus dem Jahre 1893 basieren.
Andreas Marks macht zunächst vertraut mit dem von der Außenwelt abgeschotteten Japan des 17. Jahrhunderts, in dem der Holzschnitt erblühte. Verleger begannen mit dem Druck von einzelnen Blättern, auf denen Schauspieler, Schönheiten und Samurai-Krieger dargestellt waren. Sie wurden entworfen von Künstlern mit Blick für Form und dann auch für die mehr und mehr verwendete Farbe.
„Bilder der fließenden Welt“
Diese Holzschnitte firmieren heute unter dem Begriff des ukiyo-e, was mit „Bilder der fließenden Welt“ zu übersetzen ist. Es waren Schlaglichter auf das Hier und Jetzt jener Tage. Diese Motive wurden vom Publikum – so lesen wir – „konsumiert wie moderne Zeitschriften und waren immer dann besonders gefragt, wenn sie etwas Neues zu bieten hatten.“
Sofern die Künstler in der Lage waren, mit ihren Entwürfen das Interesse der Kundschaft zu wecken, heißt es weiter, konnte sich ihre Karriere über mehrere Jahrzehnte erstrecken. Und der Holzschnittkünstler mit der längsten Laufbahn von allen war? Ganz genau: Hokusai. Und damit ist schon sehr viel gesagt über die außerordentliche Kreativität des Mannes aus Edo, dem heutigen Tokio.

„Die große Welle“
Hokusai veröffentlichte seine Werke unter zahlreiche Künstlernamen. Dies war kein persönlicher Spleen, sondern eine japanische Eigenart. Andreas Marks nennt seine wichtigsten Namen: 1. Shunrō (1779–1794; Lebensalter 19 bis 34 Jahre); 2. Sōri (1795–1798; Lebensalter 35 bis 38 Jahre); 3. Hokusai (1798–1813; Lebensalter 38 bis 53 Jahre); 4. Taito (1814–1819; Lebensalter 54 bis 59 Jahre); 5. Iitsu (1820–1834; Lebensalter 60 bis 73 Jahre); und schließlich 6. Manji (1834–1849; Lebensalter 74 bis 89 Jahre). Wen wundert es, dass sein Geburtsname ein ganz anderer war: Nakajima Tetsuzō.
Hokusai veräußerte seine Gemälde an eine kaufkräftige Kundschaft, während er mit den von ihm entworfenen Einzelblättern und Buchillustrationen auch weniger wohlhabende Interessenten erreichte. Dass das Interesse an seiner Kunst ungebrochen ist, zeigte sich zuletzt bei einer Auktion im Jahre 2023. Da wurde ein Abzug des Holzschnitts „Die große Welle“, das als Japans bekanntestes Kunstwerk gilt, zum Rekordpreis von 2,76 Millionen US-Dollar versteigert. Da gilt die Überschrift, mit der die Einleitung dieses Großwerks überschrieben ist: „Hokusai Maximus“.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir bereits zwei einschlägige Bände von Andreas Marks im Taschen Verlag vorgestellt – und zwar „Japanische Holzschnitte“ (HIER) und „Hokusai – 36 Ansichten vom Berg Fuji“ (HIER).
Das Bild
am Kopf der Seite ist ein Detail aus dem Werk „Edelmann und Hofdamen“ (Tokyo, Sumida Hokusai Museum), Foto: Taschen Verlag
Andreas Marks: „Hokusai“, Taschen Verlag, dreisprachige Ausgabe (englisch, deutsch, französisch), 722 Seiten, 175 Euro.

Toller Beitrag!
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Herzlichen Dank! Das freut mich. Beste Grüße und einen schönen Tag wünschend, M.
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