
Paul Celan (1920-1970) hat zeitlebens wenig Sympathie für Biographie und Photographie aufgebracht. Das soll vorkommen. Allerdings ist es vor diesem Hintergrund erstaunlich, wie überaus üppig die Bildbiographie geraten ist, die Bertrand Badiou im Suhrkamp Verlag über den Lyriker veröffentlicht hat. Es handele sich um die erste Biographie, so heißt es, die umfassend den gesamten Lebensweg in Wort und Bild abschreite (selbst die Exhumierung des Leichnams wird detailreich bedacht).
Paulownien auf der Place de la Contrescarpe
Zudem werde erstmals aus den immer noch unveröffentlichten Tagebüchern zitiert. Nicht zuletzt entstand das Werk im engen Austausch mit Eric Celan, dem Sohn. Man kennt sich: gemeinsam betreuen Badiou und er den Nachlass des Dichters. Wozu das alles führt? Zu einem faszinierenden Opus magnum, in dessen Vielfalt man sich immer wieder versenken kann.
Es ist eine Vielfalt, die aus der Genauigkeit entsteht. Bertrand Badiou sucht beharrlich nach Bildmaterial, das Vita und Werk illustriert. Er schaut sich seine Fundstücke genau an und verleitet uns dazu (wozu es allerdings nicht viel Aufhebens bedarf), es ihm nachzutun. Drei Beispiele! Zum Gedicht „La Contrescarpe“, das auf das Paris der unmittelbaren Nachkriegszeit zielt, findet er ein zeitgenössisches Schwarz-Weiß-Foto des gleichnamigen Platzes; über die Paulownien, die in einem Vers erwähnt werden, erfahren wir, dass diese Blauglockenbaumgewächse „heute dort wieder wachsen.“
„Nagels Reiseführer Israel“
Oder: Beim Gruppenbild auf dem Balkon des Hotels in der Pariser Rue des Ecoles, in dem Paul Celan und seine Ehefrau Gisèle Celan-Lestrange Anfang der 1950er Jahre leben, wird der Blick auf bröckelnden Kitt und abplatzende Farbe gelenkt: „Der Zustand des Fensters spricht Bände über den Komfort des Zimmers, in dem die beide leben.“ Und zum Cover von „Nagels Reiseführer Israel“ wird anlässlich einer Reise nach Tel Aviv im Jahre 1969 vermerkt, dass Paul Celans Exemplar „keine Lesespuren“ aufweise. So viel zur Genauigkeit.
Es ist kein fortlaufender Text, dem wir folgen, sondern wir springen von Etappe zu Etappe, von Szene zu Szene, von Bild zu Bild. Da werden auch manche Gedankengänge verkürzt oder abgebrochen. Andererseits werden die Fotografien derart ausführlich beschrieben, dass sie zuweilen eigenständigen Kapiteln gleichen.
„Was hat diese Hand getan?“
In diesem biographischen Mosaik gibt es eine Unmenge an Abbildungen – darunter das einzige bekannte Farbfoto, das den Dichter zeigt, und auch eine Aufnahme, die gleich zweimal abgedruckt wird. Von diesen Fotos sind einige noch nie veröffentlich worden.
Auch eines von Ingeborg Bachmann und Paul Celan auf der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf im Jahre 1952. Es ist die erste Reise des Dichters ins Nachkriegsdeutschland – „was für einen Überlebenden des Genozids keineswegs selbstverständlich ist“, wie es Bertrand Badiou formuliert. Bei späteren Reisen habe er dann genau geprüft, wem er die Hand geben und wer sie ihm reichen werde. Die Frage lautet: „Was hat diese Hand während dieser zwölf Jahre getan?“


Wahnanfälle mehren sich
Paul Celans Leben ist geprägt vom Terror des Nationalsozialismus, dem seine jüdische, aus Czernowitz stammende Familie ausgesetzt war. Sein Vater starb im Arbeitslager an Typhus, seine Mutter wurde von der SS erschossen. Dieses Leid zieht eine tiefe Spur durch seinen Alltag und seine Dichtung. In späteren Jahren nehmen die psychischen Probleme zu. Wahnanfälle mehren sich. „Schmerz“ wird, so lesen wir, zum Schlüsselwort ab 1962: „Eine einzelne Silbe, die gleichermaßen auf die zunehmende Kargheit von Celans Dichtung und auf die tiefen Verwerfungen in seinem Leben verweist.“
Bertrand Badiou schöpft aus vielen Originalquellen. Diese zitiert er in einer solchen Häufigkeit und zuweilen auch Ausführlichkeit, dass hier nicht nur von einer Biographie die Rede sein darf, nicht nur von einem Bildband, sondern auch – bei großzügiger Auslegung – von einem Quellenwerk. Und es lohnt sich zumeist, ach, eigentlich immerzu.
„Ma chérie, zuerst: ich liebe Sie“
Ein Brief aus Köln ist so eine Quelle. Paul Celan schreibt ihn im April 1954 an Gisèle in Paris: „Ma chérie, zuerst: ich liebe Sie, und dann: ich liebe Sie, und dann: ich liebe Sie und liebe Sie.“ Anschließend teilt er mit, „gute Geschäfte“ gemacht zu haben: Rundfunk-Honorar für einige Gedichte, Vorschuss von Kiepenheuer & Witsch für zwei Simenon-Romane. Weiter dann zu den Begegnungen: „Schallück und Böll sind sehr-sehr nett gewesen …“ Und zur Stadt: „selbst Köln mit seinen Möglichkeiten auch, Leute in der Stadt selbst und in der Nähe zu sehen (…) scheint mir kein Ort zu sein, an dem ich arbeiten kann -“.
Immerhin liefert ihm die Stadt drei Jahre später die Titelzeile des Gedichts, das Bertrand Badiou als „das Gedicht“ der Liebe zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann bezeichnet: „Köln, Am Hof“. Überhaupt die Liebesbeziehungen! Inge Waern in Hamburg, Gisela Dischner in Frankfurt/Paris oder Ilana Shmueli in Israel – die Zahl der Namen, die da angeführt werden, ist überraschend. Und auch jenseits des Voyeuristischen sind die Begegnungen von Belang, da sie einfließen in seine Gedichte.
„-i-“ wie Idee
Selbstverständlich zeichnet die Biographie, die in Zusammenarbeit mit Nikolas Geibel entstanden und mit einem Essay von Michael Kardamitsis versehen ist, die großen Linien nach. Geburt und Tod und was so alles dazwischenliegt: das Werk von „Schnee aus den Urnen“ bis zu „Lichtzwang“, Sonderbarkeiten wie die Goll-Affäre und die Begegnung mit Martin Heidegger. Aber immer wieder geht der Blick auch in die Nischen dieses Lebens. Dadurch wird die Persönlichkeit nur um so feiner profiliert.
Deutlicher als zuvor wird der Künstler als Privatmann vorgestellt. Anfang der 1950er Jahre beginnt Paul Celan damit, Textstellen in Briefen oder Büchern, die ihm aufgefallen sind und die er womöglich einmal nutzen könnte, mit einem „-i“ zu markieren – „-i-“ wie Idee. Oder dies: Weil Martin Buber ihm ein Buch mit dem falschen Datum signiert hatte, wollte er es nicht besitzen und hat es verschenkt. Und das noch: Paul Celan genoss den bittersüßen Geschmack der Pampelmuse – und wenn er die Frucht kaufte, dann eine mit der Herkunftsbezeichnung „Jaffa“, um Israels Wirtschaft zu unterstützen.
„Erschreckende Faktum“
Seiner Ehefrau hat Paul Celan einmal gesagt, sobald man seine Armbanduhr bei ihm zu Hause finden werde, würde er verschwunden bleiben. Das war genau der Fall im Jahre 1970. Im Mai wird sein Leichnam aus der Seine gezogen. Den Freitod hatte er, nach Einnahme von Antidepressiva und Neuroleptika, vermutlich schon am 20. April gewählt. Bertrand Badiou weist auf das „erschreckende Faktum“ hin, dass Adolf Hitler an einem 20. April geboren wurde.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir bereits einige Bücher über Paul Celan vorgestellt – darunter die Edition seiner Briefe (HIER), die Erinnerungen seines Lektors Klaus Reichert (HIER), Hans-Peter Kunischs Rekonstruktion der „unmöglichen Begegnung“ des Dichters mit Martin Heidegger in „Todtnauberg“ (HIER) sowie ein Band mit Erinnerungen von Zeitgenossen (HIER).
Bertrand Badiou: „Paul Celan – Bildbiographie“, in Zusammenarbeit mit Nicolas Geibel und mit einem Essay von Michael Kardamitsis, Suhrkamp, 580 Seiten, 68 Euro.
