Über die Feinde der Frauen und die Unterhose des heiligen Griffone: Tobias Roths Spezereien aus dem Neapel der Renaissance

Neapel ist in der Renaissance eine Stadt der Bücher. Foto: Bücheratlas

Tobias Roth hat mit seinem Prachtband „Die Welt der Renaissance“ vor drei Jahren eines der schönsten Bücher der Saison geliefert (was wir HIER gefeiert haben). Nun legt der multitalentierte Autor – er ist nicht nur Sammler versunkener Literaturschätze, sondern auch ihr kenntnisreicher Deuter und gewitzter Übersetzer – einen Folgeband vor. Mit „Neapel – Welt der Renaissance“ beginnt eine Städtereihe, in der demnächst auch Florenz, Rom und Venedig gewürdigt werden sollen.

Doch zunächst einmal geht es nach Neapel – in Wort und Bild, im steten Wechsel von Einführung und zeitgenössischem Text. Giovanni Boccaccio (1313 – 1375), der prägende Jahre in Neapel verbrachte, ist ebenso dabei wie Giovanni Pontano (1429 – 1503), den der Herausgeber besonders schätzt. Die Anthologie offeriert auch jenen manch Neues, die das Großwerk „Welt der Renaissance“ auswendig gelernt haben. Die Fokussierung macht es möglich: Es geht nicht mehr um die ganze „Welt“, sondern nur um eine Stadt am Fuße des Vesuvs.

„Vedi Napoli e poi muori“

Neapel sehen und sterben – so lautet die gängige Übersetzung der Redewendung „Vedi Napoli e poi muori“, die schon Goethe in seiner „Italienischen Reise“ kolportiert hat. Die Kernaussage, wonach die Stadt eine Reise wert ist, galt in der Antike, als dort dem feinen Leben gefrönt wurde. Und sie galt ebenso für das späte Mittelalter, in dem sich die Renaissance ereignete –  die Wiedergeburt der Antike.

Roth verweist sogleich auf ein Alleinstellungsmerkmal: „Die Renaissance in Neapel spielt sich hauptsächlich in der Literatur ab“, schreibt er, „Maler und Bildhauer sprießen hier nicht in solcher Unzahl und Ausnahmequalität wie in Mittelitalien“.

„liber sum“

König Alfons II (1448 – 1495) aus dem Hause Aragon ging mit gutem Beispiel voran. Er förderte die Buchkultur, scharte Literaten um sich und freute sich vor allem über Buchpräsente. Sein persönliches Wappen, die sogenannte Imprese, war ein aufgeklapptes Buch und die Losung „liber sum“. Was dreierlei bedeuten könnte, wie Tobias Roth ausführt. Entweder übersetzt man die lateinischen Worte mit „Ich bin ein Buch“ oder mit „Ich bin frei“. Oder sie zielen auf eine Horaz-Passage, die von Selbstironie und Antiautoritarismus handelt. Weil sich Alfons II. nicht mehr wehren kann, unterstellen wir einfach, dass er alle drei Aspekte im Sinn gehabt hat.

Seine königliche Bücherliebe findet sich auch in der ersten Quelle, aus der geschöpft wird. Antonio Beccadelli (1394 – 1471) schreibt in „Aussprüche und Taten des Königs Alfonso“, dass dieser die Bücher als die besten Ratgeber bezeichnet habe: „Denn was er zu wissen wünsche, das könne er von ihnen stets ehrlich hören, da sie von ihm nichts zu fürchten und nichts zu hoffen hatten.“

Vulkanische Umgebung

Der Band gibt vielfältige Einsichten in eine pulsierende und politisch umkämpfte Stadt. Auch von der vulkanischen Umgebung ist die Rede, vom Vesuv und den Phlegräischen Feldern, die aktuell wieder unter verschärfter Beobachtung stehen. Dabei wird auf Prosa und Poesie, auf Briefe und Chroniken zurückgegriffen. Recht zügig veranschaulicht die Lektüre, dass die Renaissance nicht immerzu nur Feingeist, Tugend und humanistische Bildung im Angebot hatte.

Dass die Epoche viele Schattenseiten kannte, ist wahrlich keine Neuigkeit. Dennoch entwickelt die konkrete Darstellung ihre ganz eigene Überzeugungskraft. Ein Potpourri mit Fundstücken aus diversen Chroniken macht das deutlich.

„aufgehängt, hängen gelassen, gevierteilt“

„Am 17. Juli 1498, einem Dienstag“, schreibt der Chronist Giacomo della Morte, „wurde auf dem Hauptmarkt Michele de Rosa aufgehängt, hängen gelassen, gevierteilt und an den königlichen Straßen, die durch Neapel laufen, an vier Orten ausgestellt, weil er einen gewählten Vertreter und Räte des Volkes beleidigt hatte.“

Und Giuliano Passero meldet für den 6. August 1510, dass drei Schiffe mit 2500 Mauren, „Männern wie Frauen“, aus Tripolis angekommen seien: „Sie wurden alle billig verkauft und viele von ihnen starben.“ Eine Erstaunlichkeit am Rande: Von beiden Autoren, die der Chronik so sehr verpflichtet waren, sind die genauen Lebensdaten unbekannt.

Schlagfertigkeit verbündet sich mit Frevel

Deftig-derbe Kost tischt Masuccio Salernitano (um 1410 – 1475 oder 1476) auf. Seine Novelle „Die Unterhose des heiligen Griffone“ handelt von einem Mönch auf lüsternen Abwegen, der bei der übereilten Flucht vor dem Ehemann der Geliebten seine Unterwäsche zurücklässt.

Doch weil Schlagfertigkeit und Frevel zusammenfinden, wird die „ekelhafte, flohverseuchte, fleckenübersäte Unterhose“ in der Not zur wunderwirkenden Reliquie des Heiligen Griffone erklärt. Ist es überraschend, dass Masuccios „Novellino“ aufgrund der kirchenkritischen Scherze im „Index der verbotenen Bücher“ von 1559 gelistet wird? Die Zensur wirkte offenbar nachhaltig.  Erst im 19. Jahrhundert kommt es zur Wiederentdeckung.

„die Stimme stockt vor Wut“

Eine Wiederentdeckung hat auch Laura Terracina verdient (1519 – um 1577). Sie veröffentlichte nach Zählung von Tobias Roth acht Lyrikbände, von denen einige mehrfach aufgelegt wurden. Damit war sie die auflagenstärkste Dichterin ihrer Zeit, auch kein Mann kam an diesen Output ran. In ihren „Discorsi“ setzt sie sich vehement für Frauenrechte ein.

Das Gedicht „An die Feinde der Frauen“ beginnt mit dieser für sie typischen Stanze, also einer achtzeiligen Strophe: „Ich will sprechen, doch die Stimme stockt vor Wut, / denn ich kämpfe allein für unser Geschlecht. / Schon länger spornen mich Begehren und Glut / zur Rache, doch sie ist mir nicht so recht / gestattet gegen jene, die dumm aufs Blut, / nur allzu oft über Frauen schlecht sprechen. / Der Himmel hat hoffentlich Blitze genügend, / um für uns alle Vergeltung zu üben.“ 

„Klappbroschur Barbara“

Ein vielfältiges Vergnügen ist dieser Band. Die Einführungen, in denen die jeweiligen Autorinnen und Autoren in ihrem Umfeld präsentiert werden, sind so konzentriert wie unterhaltsam. Die Auswahl der Texte ist im besten Sinne bunt. Auch handelt es sich in vielen Fällen um die deutsche Erstübersetzung. Stilistisch geht es erfreulich locker zu: „Rom geht nicht an einem Tag unter, aber dafür gründlich.“

Die Buchgestaltung übernimmt einige Schmuckelemente (aber nicht alle) des Prachtbandes von 2020. Dazu zählt die graphisch variable Gestaltung des Druckbildes: Mal laufen die Kapitelenden spitz zu oder runden sich, mal schwingen sie über zwei Seiten aus oder stürzen scharf in eine Ecke ab, mal glaubt man, die Form einer Amphore, einer Sanduhr oder vielleicht doch einer Wespentaille zu erkennen. Und der Einband umschließt auf raffinierte Weise die Seiten – es handelt sich, wie es auf Nachfrage heißt, um die „Klappbroschur Barbara“.

Kann man sich das alles nur schwer vorstellen? Stimmt. Da hilft nur eines: Den Band in die Hand nehmen, aufschlagen, staunen. Mit anderen Worten: „Neapel“ sehen und lesen.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir Tobias Roths opus magnum „Die Welt der Renaissance“ HIER vorgestellt. 

Tobias Roth: „Neapel – Welt der Renaissance“, Galiani Berlin, 208 Seiten, 22 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

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