Klimakatastrophe mit Mojito: In „Blue Skies“, dem so bitteren wie unterhaltsamen Roman von T. C. Boyle, schlägt die Natur zurück

T. C. Boyle vor ziemlich blauem Himmel Foto: Bücheratlas

Überall nur Sonne, nichts als blauer Himmel – daraus hat Irving Berlin vor fast 100 Jahren, nämlich 1926, den Song „Blue Skies“ gemacht. Der hat bislang über 500 Coverversionen erfahren – von Josephine Baker über Ella Fitzgerald bis zu Willie Nelson. Nun wird die erste Strophe dem gleichnamigen Roman von T. C. Boyle als Motto vorangestellt: „Blue Skies / Smiling at me, / Nothing but blue skies / Do I see“. Klingt immer wieder himmlisch. Allerdings ist es in diesem Fall nackte Ironie.

Wie wär’s mit einem Drink?

Im 19. Roman des US-Autors sind wir bei den Cullens zu Gast. Bei Frank und Ottilie in Kalifornien und bei ihren beiden erwachsenen Kindern. Finanzsorgen kennen sie nicht, das reine Glück allerdings auch nicht. Sohn Cooper ist ein Insektenforscher mit wechselnden Partnerinnen, Tochter Cat versucht sich in Florida als Influencerin. Ihr Ehemann Todd ist als Markenbotschafter für Bacardi-Rum selten zu Hause – auch als Zwillinge zur Welt kommen, ist er auf einem Party-Trip.

Es ist ein amerikanisches Sittenbild im Zeichen des Klimadebakels. Alle kriegen mit, dass die Erde ächzt, dass in Kalifornien die Dürre wütet und in Florida der Meeresspiegel steigt, dass die Insekten verschwinden und dass das Bevölkerungswachstum kein Halten kennt. Cooper raunzt seine Mutter an: „Der Planet stirbt, siehst du das nicht?“ Doch, das sieht sie. Ottilie ist sogar bereit, frittierte Grillen und gehackte Mehlwürmer anstelle eines Steaks (Rinder! Methanausstoß!) zu essen. Aber viel mehr kann man wohl nicht machen. Wie wär’s mit einem Drink?

Der Tigerpython wird „ganz schön groß“

Die Bandbreite der Alkoholika, die in diesem Roman konsumiert wird, ist groß. Da fühlt man sich an Schwarz-Weiß-Spielfilme erinnert, in denen erst einmal ein Whisky eingeschenkt wurde, ehe ein Gespräch beginnen konnte. T. C. Boyle hat sich schon in den Romanen „Grün ist die Hoffnung“, „Drop City“ und „Das Licht“ als Drogenexperte ausgewiesen. Nun erleben wir eine Gesellschaft im Rausch.

Cat ist die Zentralgestalt des Romans. Sie liebt vor allem Mojitos. Und sie will im Netz auffallen. Als sie in einer Tierhandlung einen Python im Fenster entdeckt, gefällt ihr sein Muster. Gleich sieht sie die Zahl ihrer Follower explodieren. Den Hinweis, dass dieser Tigerpython „ganz schön groß“ werden kann, nimmt sie zur Kenntnis. Doch stärker interessiert sie, dass das Terrarium mit dem Paul-Klee-Druck in ihrer Wohnung harmoniert. 

Wein schmeckt nach Asche

Pythons sind in Florida eine Pest. Nicht nur in der Fiktion, sondern auch in der Realität. Die invasive Spezies frisst das heimische Tierreich leer. Jedenfalls ist es so in den Everglades. Das bekommt Cat von ihrem Bruder zu hören. Aber Cat ist vernarrt in Willie, den Python. Man möchte meinen: fast so vernarrt wie in die Zwillinge.

Parkangestellte in Florida beim Versuch, einen Python aus dem Grün zu ziehen – vergebens. Foto: Bücheratlas

Die Menschheit, so wie T. C. Boyle sie hier darstellt, hat es nicht auf die Reihe gekriegt, das Klima im Zaum zu halten. Die Natur schlägt zurück. Mit Feuer, Sturm und Überflutungen. Der Wein schmeckt nach der Asche der Waldbrände. Auch die Tierwelt beißt zu – von der Zecke bis zum Python. Mit alptraumhaften Folgen für die Familie Cullen.

Schlimmer geht’s immer

„Blue Skies“ ist ein Familien- und Umweltroman, in dem es knirscht und kracht, im Privaten wie im Ökologischen. Ein apokalyptischer Reigen, den T. C. Boyle geschmeidig und abwechslungsreich arrangiert hat, voller Witz und Wahnwitz, mit dem Blick aus mehreren Perspektiven. Stets rechnet man mit der nächsten schicksalsschweren Wendung. Denn schlimmer geht’s immer. Doch die Drastik, die diesem Roman von Anfang bis Ende innewohnt, ist wohl dosiert. Dass die Geschichte überdies auf einer satten Faktenbasis ausgebreitet wird, gehört zum Selbstverständnis des Autors.

Umweltfragen hat T. C. Boyle schon einige Male behandelt. Da denke man an den Roman „Ein Freund der Erde“, der zur Jahrtausendwende erschienen ist und dessen Plot von der Erderwärmung befeuert wird. Doch noch nie hat der Autor mit so viel bitterem Humor die Endzeit in Szene gesetzt. Die Plagen sind schon alle da. Jetzt kommt nur noch der Untergang. Den muss man sich als herrlich blauen Himmel vorstellen.

Martin Oehlen

Funfact 1: Getränkekarte

Eine Liste der Getränke, die in „Blue Skies“ konsumiert und mal mit und mal ohne Markennamen erwähnt werden: Mojito, Flor de Can~a, Crème de Menthe, Bacardi, Paso Robles Zinfandel, Sierra Nevada, Patrón Silver, Champagner, Chardonnay, Kahlua, Gin Tonic, Mescal, Bourbon Negroni, Bier, Pinot noir, Viognier, Prosecco, Wein, Bordeaux, Moet & Chandon, Bloody Mary, Mimosa, Schnaps, Margarita

Funfact 2: Nebenlektüre

Aus einer Anwandlung heraus zu Anton Tschechows „Kirschgarten“ aus dem Jahre 1903 gegriffen. Dort sagt Jepichodow (in der Reclam-Übersetzung von Hans Walter Poll): „Nachtfrost hat es heute gegeben, drei Grad Kälte, dabei stehen die Kirschen in Blüte. Ich kann unser Klima nicht billigen.“

Auf diesem Blog

haben wir von T. C. Boyle zuletzt den Roman „Sprich mit mir“ HIER vorgestellt.  Außerdem hat uns der US-Autor einmal einen Literaturtipp geschrieben, der nichts von seinem Reiz verloren hat – HIER.

Veranstaltungen

mit T. C. Boyle:  Lesung am 15. 6. in München (Muffathalle um 20 Uhr); Signierstunden am 16. 6. in München in der Buchhandlung Lemkuhl (Leopoldstraße 45 um 15.30 Uhr) und bei Hugendubel (Marienplatz um 18 Uhr); Lesung am 17. 6. beim Festival Literatur am Dom in Altenberg (Kräutergarten am Dom um 20 Uhr); Lesung am 18. 6. ebenfalls in Altenberg, aber in diesem Falle aus dem Erzählband „Sind wir nicht Menschen“ (Kräutergarten um 12 Uhr); Lesung am 19. 6. 2023 in Hamburg (Universität um 20 Uhr).

T. C. Boyle: „Blue Skies“, dt. von Dirk van Gunsteren, Hanser, 400 Seiten, 28 Euro. E- Book: 20,99 Euro.

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