
Mit einer kühnen Behauptung legen wir los: Aus diesem Buch kehrt keine und keiner unberührt zurück. Tatsächlich sind die 13 Kurzgeschichten von Joy Williams, die unter dem so schlichten wie selbstbewussten Titel „Stories“ bei dtv veröffentlicht werden, der Hammer. Ein Stelldichein mit Menschen, die alle ein wenig gebrochen, ein wenig enttäuscht und ein wenig ermattet sind. Woran das liegt? Viele haben das Gefühl, dass das noch nicht alles gewesen sein kann, was ihnen das Leben bislang geboten hat. Aber insgeheim ahnen sie wohl, dass es genauso ist: da kommt nichts mehr.
Auf geht’s mit der Kurzgeschichte „Liebe“ und dem Prediger Jones, der nach 34 Jahren im Amt „ausgemergelt“ ist vom Glauben: „Er hat stets richtig gehandelt, aber es hat nie zu etwas geführt.“ Es folgt Gloria in „Der kleine Winter“, die ihren Sarkasmus der nervigen Gwendal zuteilwerden lässt: „Mit etwas Training, dachte Gloria, würde sich dieses Kind zur Leichenbestatterin eignen.“ Dann schreibt in der Geschichte „Im Zug“ das Mädchen Dan eine Postkarte an Jim Anderson und muss sich von Freundin Jane tadeln lassen: „Jim Anderson zu schreiben ist auf ungefähr zwölf verschiedene Arten bescheuert. Er ist ein Golden Retriever, Herrgott.“
„Du warst mal ein kleines Baby“
Und jetzt, spätestens bei „Rost“, der vierten Geschichte des Bandes, steht fest: Diese Stories sind eine Klasse für sich. Als Dwight 25 Jahre alt ist, versichert er dem vier Monate alten Baby Lucy: „Ich werde dich heiraten.“ Bis es dazu kommt, verbringt er die Zeit mit anderen Frauen, mit Caroline, Daisy und Rosette, die ihm auch noch im Alter verbunden sind, was Lucy, die er dann tatsächlich geehelicht hat, offenbar nicht weiter stört.
Eines Tages kauft Dwight einen Thunderbird, der sich als riskante Rostlaube entpuppt, worauf er den Wagen im Wohnzimmer abstellt. Nachdem Lucy zur Probe Platz genommen hatte, sagt sie: „Ich hatte da drin das ganz, ganz leise Gefühl zu verstehen, worum es geht, nämlich dass irgendetwas diese Welt ihrer Verheißung beraubt hat.“ Wenige Augenblicke später teilt sie Dwight mit, dass sie gerne ein Kind hätte. „Du warst mal ein kleines Baby“, erwidert er. Ja, das wisse sie, sagt Lucy. Worauf Dwight fragt: „Und ist das nicht genug?“
„Lu-Lu fährt gerne Auto“
Bei aller Absurdität stellt Joy Williams ihre Figuren nicht aus, sondern belässt ihnen ihre Würde. Selbst in den bizarrsten Situationen. Da denken wir an Heather aus „Lu-Lu“. Als Heather bei den Dunes gerade ein paar Gin zu sich nimmt, kommt ihr die Idee, mit dem Haustier der Nachbarn einen Ausflug zu machen. Kein Problem, sagen die Dunes: „Lu-Lu fährt gerne Auto.“ Schon schmeißt Heather eine Schaufel Erde auf die Rückbank ihres Wagens, damit es das Tierchen gemütlich hat. Doch Lu-Lu lässt sich Zeit und bleibt um ein Kissen gewickelt. So eine Boa kann man nicht einfach heranpfeifen wie einen Hund. „Wie lockt man so etwas herbei, fragte sie sich; etwas, das alles verändern kann, mein Leben?“
Wo die Seelen nach Zuspruch dürsten, ersetzen die Dinge zuweilen die Menschen. Da sorgt in „Kongress“ eine selbstgebastelte Lampe aus Hirschhufen nicht nur für Trost, sondern entwickelt einen „eklektischen Lesegeschmack“: Bei Kirkegaard schnappt sie auf, dass das Denken nicht mit der Existenz verwechselt werden dürfe. Und in „Besuchsrecht“ schwärmt eine ältere Frau von ihrem Wachhund, ist dann aber irritiert, weil ihre Gesprächspartnerin nach der Rasse fragt. Entschieden stellt sie klar: „Er ist zum Einstöpseln.“
„Wir sind die letzte Generation“
Beim Warten auf bessere Zeiten guckt zuweilen Becketts „Godot“ durchs Oberlicht. In der Kurzgeschichte „Kongress“ landet Miriam in einem ausgebuchten Provinzhotel. Sie wundert sich, was all die Leute in dieser Ödnis suchen. Eine Antwort bekommt sie von Irene: „Wir sind hier mit unseren Liebsten, weil wir glauben, dass hier demnächst etwas Großes geschehen wird.“ Und weiter: „Das wollen wir erleben. Und dann sind wir dabei gewesen.“
Auch Kinder und Jugendliche haben ihre Sorgen. In „Die Letzte Generation“ – nicht frisch erdacht, sondern bereits 1990 im Original veröffentlicht – klärt Audrey den neunjährigen Tommy auf, dass die Erde womöglich schon in 50 Jahren ausgelöscht sei. Daraufhin versuchen sich die beiden an einem Kuss. Aber das klappt nicht richtig. „Macht nichts“, versichert Audrey: „Wir brauchen uns gar nicht zu küssen. Wir sind die letzte Generation.“
„In weniger als 20 Seiten“
Joy Williams hat in den 1950er Jahren mit Raymond Carver (1938-1988) in Iowa studiert. An dessen Minimalismus mag man bei ihren Stories denken. Sie selbst hat einmal in einem Interview mit „The Paris Review“ gesagt: „Ich glaube, man kann eine Menge in weniger als 20 Seiten hineinpacken.“ Den Nachweis liefert sie hier auf begeisternde Weise. Mit Geschichten voller Witz und Wahnsinn und ein paar Drinks obendrein, zupackend, dunkel und verblüffend, tragisch und grotesk. Und allesamt sind sie bar jeder „Message“ – denn dass man nicht auf eine Botschaft hinschreiben dürfe, sagte sie im vergangenen Jahr in der „Library of Congresss“ in Washington, habe sie schon als junges Mädchen gelernt.
Vor drei Jahrzehnten sind einige ihrer Kurzgeschichten schon einmal auf Deutsch bei Kunstmann und Rowohlt erschienen. Allerdings flogen sie zumeist unter dem öffentlichen Radar und sind längst vergriffen. Brigitte Jakobeit und Melanie Waltz haben nun die Neuübersetzung bzw. Erstübersetzung besorgt – denn die Hälfte der hier vorliegenden Texte ist noch nie ins Deutsche übertragen worden.
Fortsetzung folgt
Joy Williams, mittlerweile 79 Jahre alt und zuhause in Key West (Florida) und Tucson (Arizona), hat bislang fünf Romane veröffentlicht. Die ersten Erzählungen kamen 1982 heraus, vier weitere Bände folgten. Mit Umweltfragen, dem „ökologischen Armageddon“, hat sie sich überdies in ihren Essays befasst. Zuletzt erschien vor zwei Jahren der endzeitliche Roman „Harrow“, in dem eine radikale Seniorentruppe den Endkampf zur Wahrung der Natur führt, und aktuell arbeitet Joy Williams an einem sechsten Roman. Damit ist sichergestellt: Joy Williams‘ dunkel leuchtender Wahnwitz ist hierzulande noch längst nicht ausgeschöpft.
Und tatsächlich: Fortsetzung folgt. Der Deutsche Taschenbuch Verlag, der aktuell und erneut mit einem starken Programm an Originalausgaben punktet, plant weitere Übersetzungen. Als Nächstes soll „State of Grace“, der Debütroman aus dem Jahr 1973, in deutscher Erstausgabe erscheinen.
Martin Oehlen
Joy Williams: „Stories“, dt. von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz, dtv, 304 Seiten, 25 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

Deine Rezension macht mich neugierig auf diese Autorin, vielen Dank!
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Ein eindeutige Empfehlung! Viel Vergnügen bei der Lektüre!
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