Das Militärcamp, die Klavierlehrerin und dann das Leben: „Lektionen“ ist Ian McEwans bislang bester Roman

Foto: Bücheratlas

Die beste Zeit seines Lebens, davon ist Roland Baines auch mehr als 50 Jahre später überzeugt, hatte er als Achtjähriger in einem Militärlager in Libyen. Sein Vater, Mitglied der britischen Armee, ist in den 1950er Jahren in dem arabischen Land stationiert. Als Unruhen ausbrechen, werden die europäischen Frauen und Kinder vorübergehend in einem Camp untergebracht. „Das Camp war klein, niemand durfte hinaus, und Roland war überglücklich. Er und seine Freunde hatten das ganze Lager zur freien Verfügung und wussten schon bald, wie Motoröl auf heißem, pulvrigem Sand roch. Sie stöberten in den Werkstätten herum, redeten mit Panzerkommandanten oder spielten Fußball auf einem großen, rasenfreien Platz.“

„Eine unwirkliche Freiheit“

Diese acht Tage „einer unwirklichen Freiheit“ bestimmen fortan seine Vorstellungen vom Leben und bestärken seine „Aversion gegen jede Art regulärer Arbeit“. Roland Baines wird ein Mensch ohne Plan und ohne Ziele. „Was immer er auch anfing, stets plagte ihn der Gedanke, woanders wäre er freier, und gleich hinter der nächsten Ecke erwartete ihn ein emanzipiertes Leben, eines, das ihm verwehrt bliebe, wenn er jetzt unauflösliche Verpflichtungen einginge.“

Drei Jahre nach seinem schicksalhaften Aufenthalt in dem Militärcamp wird Roland von den Eltern auf ein englisches Internat geschickt. Er verstrickt sich als kaum 16-Jähriger in eine unheilvolle, von Obsessionen geprägte Liebesgeschichte, die ebenfalls verheerende Auswirkungen auf sein weiteres Leben haben wird.  

„Eine sexuelle Besessenheit“

„Lessons“, so heißt dieser großartige Roman von Ian McEwan im englischen Original. Der Diogenes-Verlag hat den Titel wortgetreu mit „Lektionen“ übersetzt.

Eine erste entscheidende Lektion erhält Roland Baines als Elfjähriger, als seine Klavierlehrerin sich während einer Klavierstunde an ihm vergreift. „Ihre Finger fanden die Innenseite seines Oberschenkels, direkt unter dem Saum der grauen Shorts, und kniffen fest zu.“ Wenig später wandert die Hand der jungen Klavierlehrerin unter den Rand seiner Unterhose, und aus dem einmaligen Missbrauch entwickelt sich vier Jahre später eine sexuelle Besessenheit, die Roland Baines ein Leben lang verfolgen wird. „Er konnte ihr nicht widerstehen, ihrem Gesicht nicht, ihrer Stimme nicht, ihrem Körper oder ihrer Art. Sein Gehorsam war der Tribut, den er zahlte.“

„Dieses gepflegte Gefühl des Versagens“

Schließlich verlässt er die Schule, um den Nachstellungen der jungen Frau zu entgehen, doch vergessen kann er Miriam Cornell nicht. Er versucht sich in verschiedenen Berufen und verstört seine rasch wechselnden Partnerinnen durch sein maßloses sexuelles Verlangen. Als seine Frau Alissa ihn und den nur wenige Monaten alten gemeinsamen Sohn verlässt, gerät das Leben von Roland Baines mehr und mehr aus den Fugen.

Auch Alissa, Tochter einer Engländerin und eines Deutschen, ist eine Getriebene. Eine berühmte Schriftstellerin will sie werden und ein Leben führen, in dem weder ein rastloser Ehemann noch ein Säugling Platz haben.  Erdrückt habe er sie, wird sie Roland mehr als 30 Jahre später vorwerfen, als sie längst eine der bekanntesten deutschen Romanautorinnen ist. „Nicht bloß mit deinem gottgegebenen Anrecht auf eine ekstatische Verbindung von Geist und Körper irgendwo hoch über den Wolken, sondern auch diese so kultivierte Version dessen, was du hättest sein können. Dieses gepflegte Gefühl des Versagens und das Selbstmitleid wegen allem, was das Leben dir gestohlen hat.“ Erst als bald 70-Jähriger stellt sich Roland Baines den Dämonen seiner Vergangenheit und versöhnt sich mit einem von Ängsten und Misserfolgen geprägten Leben.

„Komm, Opa, hier lang“

Ian McEwan geht in seinem jüngsten und bislang besten Roman weit über die bloße Schilderung eines Einzelschicksals hinaus. „Lektionen“ ist eine Reise durch 80 Jahre Zeitgeschichte und erzählt von Kriegsangst und Aufrüstung, von Flower-Power und dem Ende des Kalten Krieges. In Roland Baines‘ nächtlichen Gesprächen mit seinen Schulkameraden spiegelt sich die Furcht der Menschen vor den Folgen der Kubakrise Anfang der 1960er Jahre. Mit Freunden diskutiert er über die sozialen Folgen von Margaret Thatchers Politik, und als im November 1989 die Mauer fällt, wandert er von Staunen überwältigt durch die überfüllten Straßen Westberlins.

Am Ende des Romans sehen wir Roland Baines an der Hand seiner Enkelin, alt, müde und resigniert angesichts „einer derart geschädigten Welt“. „Sie redete in einem leisen, lockenden Singsang auf ihn ein, in dem ihre Mutter manchmal zu Paul sprach. ‚Komm, Opa, hier lang.‘ Mit besorgt gerunzelter Stirn griff sie nach seiner freien Hand und begann ihn durchs Zimmer zu führen.“   

Petra Pluwatsch

Auf diesem Blog

haben wir Ian McEwans Brexit-Roman „Die Kakerlake“ HIER besprochen.

Ian McEwan: „Lektionen“, dt. von Bernhard Robben, Diogenes, 714 Seiten, 32 Euro. E-Book: 27,99 Euro. 

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