
Die Zettel sind weg. Rebecca Gablé klopft nervös die Taschen ihrer Jeans ab. Vordere Tasche. Nichts. Hintere Tasche. Auch nichts. Die Zettel sind weg. Doch selbstverständlich weiß sie auch so, wo wir uns – kaum eine Woche vor dem Tod von Elizabeth II. – befinden. In der Westminster Hall, dem ältesten Teil des Palace of Westminster, in dem das britische Parlament seinen Sitz hat — und wo derzeit die Queen aufgebahrt ist. Bunte Lichtsprengsel fallen durch das große Fenster an der Stirnseite der einst größten Halle von England, die 1834 einen verheerenden Brand des mittelalterlichen Palastgebäudes überstand. Und die den Schauplatz von zwei Schlüsselszenen in Rebecca Gablés neuem Historienroman „Drachenbanner“ darstellt.
Henry III. regierte 56 Jahre
Das mehr als 900 Seiten starke, bestens recherchierte Werk, das soeben im Kölner Lübbe-Verlag erschienen ist, ist der mittlerweile siebte Band um die englische Familie Waringham. Er behandelt die weitgehend glücklose Regentschaft von König Henry III., der immerhin 56 Jahre regierte, damit allerdings längst nicht an die beachtlichen 70 Amtsjahre der gerade verstorbenen Queen herankam. Im Zentrum des Geschehens stehen die Hofdame Adela of Waringham und Bedric Archer, ein Leibeigner, der sich durch Flucht seiner Knechtschaft entzieht und ein freier Mann wird. Beider Lebenswege sind eng mit dem Schicksal Henrys verbunden.
„Tja!“ Rebecca Gablé hat die Suche eingestellt und referiert aus dem Gedächtnis, was es zur Westminster Hall zu sagen gibt. Immerhin hat sich die deutsche Autorin mit dem französisch anmutenden Pseudonym drei Jahre mit den Schauplätzen ihres jüngsten Romans beschäftigte, auch wenn Corona eine Recherche vor Ort unmöglich machte. Sie lese viel, um sich den Alltag und das Setting der damaligen Zeit zu vergegenwärtigen, sagt sie. Darüber hinaus sei das Internet bei der Recherche durchaus behilflich. Selbst auf YouTube habe sie schon Anregungen für ihre Bücher gefunden – etwa, wie damals Pfeilspitzen konstruiert wurden.
Revolution in Westminster Hall
Doch gehen wir zurück ins 13. Jahrhundert, genauer: in das Jahr 1258. Und stellen uns vor, dass die Westminster Hall überfüllt, die Luft schwer und stickig, der Boden schmutzig ist. Henry, ein kunstsinniger Feingeist mit wenig Talent zum Regieren und einer lächerlichen Angst vor Gewittern, treibt England durch immer neue Geldforderungen in den Ruin. Mehrere erfolglose Feldzüge und seine Pläne zur Eroberung Sizilien haben Unsummen verschlungen, für die sein Volk bluten soll. Von den Schulden beim Papst und seinem verschwenderischen Lebensstil gar nicht zu reden.
Schließlich platzt einer Gruppe englischer Adeliger der Kragen. Unter der Führung des strenggläubigen Simon de Montfort nötigt sie Henry während einer Sitzung in eben jener Westminster Hall eine geradezu revolutionäre Zusage ab: Fortan bedürfen die Entscheidungen des Königs, vor allem die pekuniärer Art, der Zustimmung „eines neuen Kronrats, der aus 24 klugen und weitsichtigen Engländern bestehen soll“. Der Alleinherrschaft der englischen Regenten ist damit ein – vorläufiges – Ende gesetzt.
Der Krieg der Barone
Erstmals in der Geschichte Englands erhält der Hochadel ein Mitspracherecht über die Geschicke des Landes. Henry ist not amused, was man ihm kaum verdenken kann: „Reglos saß er auf seinem Thronsessel, die rundlichen Hände um die Armlehnen gekrallt, und ließ den Blick langsam über die versammelten Lords auf den Bänken links und rechts schweifen. Er sah viele konsternierte und überraschte Gesichter, aber nicht einen Funken Widerstand.“
Im März 1265 findet abermals in der Westminster Hall eine erste Parlamentssitzung statt, an der auch Bürgerliche, darunter der ehemalige Leibeigene Bedric, teilnehmen dürfen. Was Rebecca Gablé mit Fug und Recht und ganz ohne Zettel als Geburtsstunde des späteren britischen Parlaments interpretiert. „Vermutlich gäbe es das heutige Parlament in dieser Form sonst gar nicht.“ Indes: Noch im selben Jahr nimmt Henry mit Unterstützung seines Sohnes Edward sämtliche Zugeständnisse, die er 1258 und 1259 in den „Provisions of Oxford“ und „den Provisions of Westminster“ gemacht hat, zurück und provoziert damit den „Zweiten Krieg der Barone“.
Hofdame liebt einen Landlosen
Dessen Niederschlagung besiegelt wenig später das vorläufige Ende des politischen Experiments. Und kostet Simon de Montfort das Leben. Der Ritter wird auf dem Schlachtfeld von seinen Gegnern im wahrsten Sinne des Wortes in Stücke gerissen. Mönche eines nahen Klosters sammeln später die Überreste ein und bestatten sie.
Eingebettet in die historischen Ereignisse ist die ungewöhnliche Liebesgeschichte von Adela of Waringham und dem landlosen Bedric Archer. Adela wird mit 14 Jahren die Hofdame von Henrys Schwester Eleanor, die wiederum mit Simon de Montfort verheiratet ist. Näher am Geschehen kann man kaum sein. Ob eine Liebesbeziehung zwischen einer Adeliger und einem Ex-Leibeigenen im 13. Jahrhundert möglich war – sei’s drum. Auszuschließen ist das nicht. Und aus kompositorischen Gründen allemal erlaubt.
Jubiläum der Waringham-Saga
Sie mache immer wieder die Erfahrung, dass reine Geschichtslektionen viele Menschen langweilten, sagt Rebecca Gablé. Sie seien halt allzu verstaubt und allzu trocken. „Wenn man den Leuten Geschichte hingegen anhand von Personen nahebringt, wird sie lebendig und interessant.“ Rebecca Gablé wurde durch ihr Anglistikstudium „angefixt“, sich mit englischer Geschichte zu beschäftigen und ist seitdem fasziniert von den Querelen der englischen Königshäuser des Mittelalters.

Sie versuche, sich komplett in die Köpfe und in die Denkweise ihrer Protagonisten zu versetzen und „die Welt so zu sehen, wie sie früher war“ – ein Konzept, auf das die Autorin seit 25 Jahren vertraut. 1997 erschien der erste Band der Waringham-Saga „Das Lächeln der Fortuna“ – und katapultierte Rebecca Gablé in die erste Reihe der deutschsprachigen Historienschreiber. Inzwischen hat sich die Geschichte der Waringhams zu einer kapitalen und äußerst erfolgreichen Reihe ausgewachsen, die den Zeitraum zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert abdeckt. Weitere Folgen sind zu erwarten.
Kleine Fluchten ins Mittelalter
„Ich komme nicht los von dieser Familie und will immer wissen, wie es weitergeht mit ihr“, sagt Rebecca Gablé. Gerade der aktuelle Band, eine Fortsetzung von „Teufelskrone“ (2019) über die Entstehung der „Magna Charta“, habe ihr am Herzen gelegen, schildert er doch den Beginn einer politischen Entwicklung, deren Folgen bis in die heutige Zeit reichen. Einziger Wermutstropfen: Der heldenhafte Simon de Montfort hat auch eine hässliche Seite, die im Buch erst im Nachwort thematisiert wird. Der Mann war Antisemit, was Rebecca Gablé „etliche schlaflose Nächste“ bereitet hat. Andererseits habe ihr imponiert, dass er bereit gewesen sei, sein Leben für eine Sache, eben die Reformierung des Königtums, hinzugeben.
Parallelen zur Gegenwart zu ziehen, lehnt die Autorin strikt ab. „Ich will die Menschen über das Mittelalter aufklären und eventuell mit dem ein oder anderen Missverständnis aufräumen.“ In dieser Beziehung habe sie durchaus „ein gewisses Sendungsbewusstsein“, doch Handlungsanweisungen wolle sie damit gewiss niemandem an die Hand geben. Ihre Bücher ermöglichten eher kleine Fluchten: hinaus aus der Gegenwart, hinein in die Vergangenheit. Natürlich könne man Lehren aus der Vergangenheit ziehen, doch das seien zumeist Binsenwahrheiten. „Es sind Dinge, die wir ohnehin schon wissen. Und die wir vermutlich nicht beherzigen werden.“
Petra Pluwatsch
Auf diesem Blog
haben wir Rebecca Gablés vorangegangenen Roman „Teufelskrone“ aus dem Jahr 2019 HIER vorgestellt.
Premierenlesung mit Rebecca Gablé in Köln an diesem Freitag, 16. September 2022, 20.15 Uhr, in der Mayerschen Buchhandlung am Neumarkt 2. Moderation: Margarete von Schwarzkopf.
Rebecca Gablé: „Drachenbanner“, Lübbe, 924 Seiten, 29,90 Euro. E-Book: 20,99 Euro.

Feines Geschenk für unserer großen Sohn.
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Prima! Wenn er historisch interessiert ist, passt das gewiss!
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Absolut. Er sammelt die Autorin. Und studiert Geschichte und Philosophie. Auf den Punkt also.
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