Viel fleißiger als Thomas Mann: Heinz Strunks Roman „Ein Sommer in Niendorf“ über einen Höllenritt mit Hoffnungsschimmer

Wie vernagelt wirkt nicht nur mancher Strandkorb, sondern auch Heinz Strunks Romanheld Georg Roth – bis kurz vor Romanende. Foto: Bücheratlas

Georg Roth kann sein Glück kaum fassen: Keine Termine so weit das Auge reicht. Der 51 Jahre alte Wirtschaftsjurist wird erst in drei Monaten eine neue Arbeitsstelle antreten. Bis dahin lockt ein langer Sommer. Sein Quartals-Sabbatical will Roth fürs ganz Private nutzen. Er mietet sich in Niendorf an der Ostsee ein, um die Geschichte seiner Familie niederzuschreiben.

Familiengeschichte als Abrechnung

Eine Familiengeschichte? Die hat Thomas Mann (1875-1955), nur wenige Kilometer entfernt in Lübeck geboren, in den „Buddenbrooks“ zur Kanon-Reife gebracht. Doch Georg Roth ist nicht Thomas Mann. Er strebt keinen Gesellschaftsroman, sondern eine Abrechnung an. Auch weiß er noch nicht, in welcher Literaturliga er spielen wird. Er hofft auf sein „Autoren-Coming-out unter der Schirmherrschaft der Gruppe 47“, die 1952 in Niendorf getagt hatte, vor nunmehr 70 Jahren.

Was ihm möglicherweise an Talent abgehe, lässt Roth uns wissen, werde er durch Fleiß und Beharrlichkeit wettmachen. Fünf Stunden pro Tag hat er eingeplant. Thomas Mann habe es lediglich auf vier Stunden gebracht: „Jeweils neun bis dreizehn Uhr; die Nachmittage blieben privater Korrespondenz vorbehalten. Der Trottel. Lebenszeitvergeudung, Verschwendung von Ressourcen.“

Roth mag die Menschen nicht

Heinz Strunk debütierte als Romancier im Jahre 2004 mit „Fleisch ist mein Gemüse“. In der produktiven Folgezeit erschienen so vielbeachtete Werke wie „Der goldene Handschuh“ (2016) und „Es ist immer so schön mit dir“ (2021). Nun macht der Autor mit „Ein Sommer in Niendorf“ – wenn wir richtig gezählt haben – das Dutzend voll: Eine Reise in die pechschwarze Nacht, an deren Ende wider Erwarten doch noch einmal die Sonne aufgeht. Und wieder ist der Zuspruch groß: Aktuell steht der neue Roman auf Platz 1 der Bestsellerliste.

Roth ist ein Romanheld, der die Menschen nicht mag. Er ist zynisch, abgestumpft, gefühlsroh. Nicht nur Thomas Mann bekommt sein Fett weg. Lustvoll versprüht Roth seine Gehässigkeiten über – buchstäblich – Gott und die Welt. An seinen Mitmenschen attackiert er mit Vorliebe, was ihm als erstes ins Auge springt: das Körperliche. Der Gang ins Freie wird regelmäßig zur Geisterbahnfahrt. Beim Nachbarn fällt ihm auf: „Seine Ohren stehen unterschiedlich weit ab, das weiter abstehende ist wie eine in einen Schlitz in seinem Kopf gesteckte Salamischeibe.“ Ein Hotelgast wirkt auf ihn wie „ein Schluck extra abgestandenes Wasser in der Kurve“ und wenig später „wie ein verdunstender Schluck Wasser in einer besonders lang gezogenen Kurve.“ Und vom Ferienwohnungs-Verwalter fertigt er diese Skizze an: „Eine blähbäuchige Froschmajestät aus dem Urschleim, von den eigenen Faulgasen an die Oberfläche getrieben.“

Flachwitze an der Theke

Humor ist für Heinz Strunk bekanntlich kein Fremdwort. Allerdings gerät die Witzigkeitssucht zuweilen ins Schwitzen. Manche Formulierungen – siehe oben – wirken eher gequält als geglückt. Dabei hat der Roman solche Originalitäts-Anstrengungen nicht nötig. Denn diese Geschichte eines Absturzes ist in ihrer Konsequenz und nichts beschönigenden Radikalität beeindruckend.

Der tiefe Fall wird zügig und farbig erzählt, ohne Scheu vor Ekel. Auf nahezu beklemmende Weise werden die Flachwitze und das Gelalle an der Theke intoniert. Lautmalerisches erweitert den akustischen Raum: „Da dump, da dump, da dump“ macht das Herz, „DING DANG DONG“ die Wohnungsklingel und „Tick, tick, tick“ der Wecker (oder auch „tock, tock, tock“ bzw. „tuck, tuck, tuck, ganz nach Beschaffenheit des Ohrs.“). Und die Szenen wechseln schnell. Der erfahrene Erzähler weiß, wie er die Leserschaft bei Laune hält.

Filmrisse kommen vor

Georg Roths Höllenritt wird durch die Begegnung mit Markus Breda erheblich beschleunigt. Denn Breda ist nicht nur für das Urlaubs-Apartment zuständig, sondern auch Betreiber eines Spirituosen-Geschäfts, aus dem er sich vorzugsweise selbst bedient. Dass er in Roth einen Trinkkumpan findet, der sich nur anfänglich ziert, ist für ihn offensichtlich das Highlight der Saison. Der Alkohol fließt in allen Stärkegraden durch die Kehlen der beiden Männer. Filmrisse kommen vor.

Roths Niedergang führt in einige düstere Winkel. Zum Ende der Stippvisite bei seiner Ex-Ehefrau Stefanie, einer fundamentalistischen Christin, schlägt er ihr „ansatzlos ins Gesicht“, und einen Fremden, den er angetrunken mit seinem Auto mitschleift, lässt er in der Böschung liegen. Irgendwann weint er sich bei den Nachbarn im Ferienhaus aus. Doch als sich die Eheleute Rudolf und Mariechen Klippstein nach ihrer Abreise nicht gleich bei ihm melden, auch wenn er ihnen seine Telefonnummer nicht gegeben hat, stehen sie umgehend  wieder auf seiner Hassliste.  

Kaum eine Hauch von Mitleid

Schließlicht scheint sich aller Elan verflüchtigt zu haben: „Er sieht sich nicht in der Lage, in einer Woche, in einem Monat, in einem Jahr in irgendeinem Büro irgendeine Arbeit wiederaufzunehmen.“ Damit war von Anfang an zu rechnen gewesen: Georg Roth ist selbst das arme Würstchen, für das er fast jede andere Person hält. Hat man Mitleid mit ihm? Öhm. Dafür bietet der Roman kaum eine Einstiegsluke. 

Aber die Fiktion ist eben eine Parallelwelt. Da geschehen noch Wunder. Zwar kommt die Gelegenheitsgeliebte Melanie für eine Hilfsaktion nicht in Frage. Schon gar nicht die heiß begehrte, aber ganz und gar unerreichbare Kellnerin Savina. Auch haben die Klippsteins – wie gesagt – ihr Urlaubsdomizil verlassen. Tochter Fiona? Die können wir vergessen.

Scheitern als Chance

Aber da gibt es ja noch Simone, die der Trinker Breda, dem es auch immer schlechter geht, über das Datingportal „Rubensfan“ kennengelernt hatte. Ihr Übergewicht war für Roth sofort eine Einladung zu abfälligen Kommentaren. Aber nun liegt er am Boden. Gut möglich, dass dieser Wechsel der Perspektive hilfreich ist. Scheitern als Chance? Das soll es geben.

Heinz Strunk selbst präsentiert den Roman auf seiner Homepage als „eine Art norddeutsches ‚Tod in Venedig‘, nur sind die Verlockungen weniger feiner Art als seinerzeit beim Kollegen aus Lübeck.“ Der Vergleich mit der „Tragödie einer Entwürdigung“, wie Thomas Mann seine Novelle genannt hat, ist selbstverständlich sehr hoch gegriffen. Vielleicht lassen wir es einfach dabei, dass dies ein lange nachhallender Strunk-Roman ist, dicht und düster und mit einem Licht am Ende des Tunnels.  

Martin Oehlen

  • Lesetournee mit „Ein Sommer in Niendorf“ und Heinz Strunk:

    09.07.2022 Hamburg – Stadtmuseum Harburg    

    31.07.22 Dangast – Watt En Schlick Fest
    14.08.22 Kassel – Kulturzelt
    02.09.22 Rostock – Circus Fantasia
    03.09.22 Zingst – Hotel Vier Jahreszeiten
    24.09.22 Osnabrück – Rosenhof
    25.09.22 Paderborn – Kulturwerkstatt Ausweichquartier
    26.09.22 Darmstadt – Centralstation
    27.09.22 Wiesbaden – Schlachthof
    28.09.22 Karlsruhe – Tollhaus
    29.09.22 Augsburg – Kantine
    30.09.22 Reutlingen – franzK
    01.10.22 Ingolstadt – Kulturzentrum neun
    03.10.22 Berlin – Festsaal Kreuzberg
    07.10.22 Stade – Stadeum
    09.10.22 Münster – Hotel Atlantik
    19.10.22 Hannover – Pavillon
    21.10.22 Potsdam – Waschhaus
    26.10.22 Hamburg – Schauspielhaus
    16.11.22 Köln – Gloria
    18.11.22 Essen – Zeche Carl

Heinz Strunk: „Ein Sommer in Niendorf“, Rowohlt, 240 Seiten, 22 Euro. E-Book: 17,99 Euro.

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