Die Gehzeit von der Erde zum Himmel beträgt 500 Jahre: Louis Ginzbergs monumentale Sammlung „Die Legenden der Juden“ erstmals auf Deutsch

Foto: Bücheratlas

Am Anfang war das Alphabet. Noch bevor es mit der Schöpfungsgeschichte richtig losging, meldeten sich die Buchstaben zu Wort. Das war also noch vor Himmel und Erde, Licht und Finsternis, Feuer und Wasser, Adam und Eva. Jeder einzelne Buchstabe trat vor Gott und warb in eigener Sache, damit die Schöpfung mit ihm beginnen möge. Und wer machte das Rennen? Achtung, Spoiler: Beth, der zweite Buchstabe des hebräischen Alphabets, mit dem dann auch die Tora, die hebräische Bibel, anhebt.   

Aus Deutschland in die USA emigriert

So steht es geschrieben in den „Legenden der Juden“. Diese monumentale Sammlung von Erzählungen der jüdischen Tradition schrieb Louis Ginzberg vor über 100 Jahren auf Deutsch nieder. Allerdings erschienen die sieben Bände zunächst einmal auf Englisch in den USA. Dorthin war Ginzberg 1899 emigriert, weil ihm in Deutschland eine Universitäts-Karriere verwehrt blieb. Die ersten vier Bände mit den Erzählungen erschienen zwischen 1909 und 1913; bis 1938 dauerte es dann noch, ehe die drei Anmerkungs- und Indexbände vorlagen.

In der Folgezeit sind die „Legends of the Jews“ in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Aber eine deutsche Ausgabe kam nicht zustande. Zwar gab es einen ersten Vorstoß dazu schon im Jahre 1910. Doch vergebens. Eine weitere Initiative von Martin Buber verpuffte im vermaledeiten Jahr 1933. Nun endlich ist es vollbracht: Ein Koloss taucht aus der Versenkung auf.

Das Originalmanuskript liegt online vor

An der ETH Zürich haben die Herausgeber Andreas Kilcher und Joanna Nowotny (jetzt Bern) die Texte nicht nur bearbeitet und mit Anmerkungen versehen. Auch ergänzen sie die Printausgabe, die einen möglichst breiten Lesekreis erreichen soll, um eine digitale Ausgabe. Dort wird das Originalmanuskript als Faksimile der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung gestellt: http://www.ginzberg.ethz.ch.

Louis Ginzberg selbst sagte einst, worum es in seinem Hauptwerk geht: „In meinen ‚Legends oft he Jews‘ habe ich zum ersten Mal den Versuch gemacht, den gesamten jüdischen Sagenkreis, soweit er biblische Personen oder Begebenheiten berührt, mit möglichster Treue und Vollständigkeit nach den Originalquellen zur Darstellung zu bringen.“

Lilit gibt Adam einen Korb

Die Erzählungen, die im Hebräischen auch unter dem Begriff Aggada oder Haggada zusammengefasst werden, basieren hauptsächlich auf der biblischen Literatur und sind über Jahrhunderte hinweg entstanden und variiert worden. Sie zielen nicht wie die Texte der Halacha auf die religiösen Lehren und Gesetze. Vielmehr sind sie – wie Andreas Kilcher erläutert – „frei, subjektiv, literarisch, dabei aber stets auch didaktisch und lebensbezogen angelegt.“ Die Aggada erweitere die biblische Welt um das Wunderbare und Schöpferische.

Nach allen Regeln der Erzählkunst wird ausgemalt, was die Bibel an Menschen, Themen, Sensationen vorgegeben hat. Erinnert sich jemand noch an Lilit, Adams Partnerin vor Eva? Sie kam mit ihm nicht klar, so erzählt Ginzberg die Geschichte nach, „weil sie auf voller Gleichheit mit ihm bestand, indem sie auf die gleiche Schöpfung der beiden sich berief.“ Was für eine Heldin der Gleichberechtigung, was für eine vormoderne Feministin! Dass sie sich dann trotz göttlicher Strafandrohung auch noch weigerte, zum jammernden Adam zurückzukehren, und verteufeln ließ – ach, das ist stark.   

Die Hölle hat sieben Hitzestufen

Vieles kann man hier staunend zur Kenntnis nehmen. Wer hätte gewusst, dass die „Entfernung der Erde vom Himmel, die Dicke des Himmels sowie die Entfernung je eines Himmels vom zweiten“ einer Gehzeit von 500 Jahren entspricht? Auch gut zu erfahren, dass die Hölle sieben Abteilungen aufweist: Scheol, Abadon, Beer, Schahat, Tit Ha-Yaawen, Schaare Mawet, Schaare Zalmawet und Gehinom. Und wie warm wird es dort so? „Das Feuer in je einer tieferen Abteilung ist sechzigmal so stark wie in der höheren, das Feuer in Scheol ist demnach am schwächsten, in Gehinom am stärksten.“

Nichts Fantasievolles scheint diesen Texten fremd zu sein. Riesen kommen auch drin vor. Abner zum Beispiel, der bedeutendste Mann am Hofe Sauls und Sohn der Hexe En Dor. Er war sogar „ein außerordentlicher Riese, so dass es leichter gewesen wäre, eine sechs Ellen dicke Mauer zu bewegen als den Fuß Abners“. Belassen wir es dabei!

Das Wort Wunder kommt nur 133 Mal vor

Im Originalmanuskript kommt die Vokabel „Wunder“ lediglich 133 Mal vor, die Vokabel „Abenteuer“ gar nur zweimal. Doch solches Zahlenwerk sagt gar nichts aus über die Vielzahl an einschlägigen Geschichten in diesem Powerpaket. Zustimmung erfährt es in der jüdischen Welt bis in die jüngste Zeit hinein. Im Jahre 2014 hieß es im „Forward“, der Zeitschrift mit „News That Matters To American Jews“: „Wenn ein Werk von erstaunlicher Gelehrsamkeit liebenswert genannt werden kann, dann gebührt ‚Legends‘ diese Bezeichnung ganz gewiss.“  

Louis Ginzberg, nach Angaben der Herausgeber Kilcher und Nowotny einer „der größten jüdischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts“, stammte aus dem russischen Kowno, dem heutigen Kaunas in Litauen. Dort wurde er 1873 geboren – Buch und Klappentext variieren bei der Angabe um ein Jahr. Er besuchte ein Gymnasium in Frankfurt am Main, studierte in Berlin, Straßburg und in Heidelberg, wo er auch promoviert wurde. Nach seiner Emigration 1899 nach New York lehrte er am dortigen Jewish Theological Seminary bis zu seinem Lebensende. Einen Ehrendoktor der Harvard University erhielt er 1936 anlässlich der 300-Jahr-Feier der akademischen Institution. Ginzberg starb 1953. 

Schwerstarbeit für die Übersetzer

Am Erfolg seiner amerikanischen Legenden-Ausgabe hatten auch die Übersetzer ihren Anteil – vorneweg Henrietta Szold und überdies Paul Radin. Ginzberg lieferte seine Manuskripte in einer sehr fordernden Fassung ab. Nicht nur war der deutsche Text fehlerhaft und mit englischen Einsprengseln versehen, was als Folge des Diaspora-Daseins in den Sprachen Jiddisch, Deutsch und Englisch gedeutet wird. Auch begnügte er sich bei Zitaten aus den religiösen Vorlagen mit Andeutungen, so dass die Übersetzer sich auf die Suche nach den Textstellen machen mussten. Seine zahlreichen Hinweise auf Erzählvarianten bei einzelnen Legenden wurden im Englischen nicht selten getilgt, um ein „bruchloses Narrativ“ vorzuweisen.

Genau dieses aus dem Nachlass gehobene Urmanuskript ist es, das die Herausgeber der deutschsprachigen Ausgabe in eine lesbare Form gebracht haben. Es sei „das oberste Gebot“ gewesen, schreibt Joanna Nowotny, „Ginzbergs originale Form so weit wie möglich zu wahren, aber dennoch einen zugänglichen Text zur Verfügung zu stellen.“ Was für eine Herkulesarbeit das war, erschließt sich sofort, wenn man online einen Blick auf das Originalmanuskript mit seinen Streichungen und Einschüben wirft.

Urstoff der Kulturgeschichte

Das Legenden-Projekt, die Aufbereitung dieser umfassendsten Sammlung traditioneller jüdischer Erzählliteratur, ist nicht nur kulturgeschichtlich erfreulich. Es macht überdies den Weg frei zu einem wundersamen Erzählkosmos. Was in den Legenden geschildert wird, scheint nicht von dieser Welt zu sein und ist doch ein Urstoff der Menschheitsgeschichte. Man muss nicht religiös gestimmt sein, um in diesem Sagenkreis eine gute Zeit verbringen zu können.

Martin Oehlen

Der Online-Auftritt

zu den „Legenden der Juden“, mit vielen sachdienlichen Hinweisen und vor allem mit den Faksimiles des Originalmanuskripts nebst den Transkriptionen, wird von der ETH Zürich unter dem Link www.ginzberg.ethz.ch bereitgestellt.

Buchpräsentation

mit dem Mitherausgeber Andreas Kilcher am 11. April 2022 in Zürich (Sphères, Hardturmstrase 66, 19,30 Uhr).

Louis Ginzberg: „Die Legenden der Juden“, hrsg. von Andreas Kilcher und Joanna Nowotny, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 1516 Seiten, 58 Euro. E-Book: 49,99 Euro.

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