
Ich hätte gern einen Stift von dem Kaliber“, sagt der Arbeiter und zeigt dabei auf eine nahezu mannshohe Schaufel. Dieser Wunsch ist dem verkappten Künstler gewiss nicht erfüllt worden. Doch auch ein noch so kleiner Stift ist zu Großem in der Lage, wenn er nur in die richtigen Hände gelangt. Was Philibert Charrin (1920-2007), den wir in der Figur des Arbeiters wiederzuerkennen meinen, mit seinem Zeichenstift geschaffen hat, ist im wahrsten Sinne des Wortes außergewöhnlich und kostbar.
Historisch herausragende Quelle
Der Franzose Charrin, in der Nähe von Lyon geboren, war auf Geheiß des Vichy-Regimes zur Zwangsarbeit im Deutschen Reich abkommandiert worden. Damit gehörte er zu den rund 650.000 Franzosen, die Opfer des „Service du travail obligatoire“ (S.T.O.) wurden. Als sogenannter Erdarbeiter („terrassier“) war er in der Steiermark tätig gewesen. Diese brutale Welt hat Charrin in seinen Zeichnungen dokumentiert und in seinen Karikaturen aufs Korn genommen. Das sind nicht nur pfiffige Bilder, sondern auch historisch bedeutende Quellen.
Nun liegen diese Arbeiten, die lange unbeachtet geblieben sind, in dem sorgfältig gestalteten Band „Philibert & Fifi“ vor, den Werner Jung herausgegeben hat. Der langjährige Direktor des NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, der im November 2021 in den Ruhestand getreten ist, hat überdies eine begleitende Ausstellung eröffnet. Sie ist bis Ende Januar 2022 im El-De-Haus am Appellhofplatz zu sehen.


„Eine sehr späte Rehabilitierung für die Opfer“
Philibert Charrin selbst hatte bereits 1946 in Paris ein Buch und eine Ausstellung mit seinen Bildern aus der Zwangsarbeit arrangiert. Allerdings war die Resonanz sehr bescheiden. Das lag offenkundig daran, dass die ehemaligen Zwangsarbeiter in Frankreich auf wenig Aufmerksamkeit stießen. Nicht selten wurden sie dem Verdacht ausgesetzt, mit den Deutschen kollaboriert zu haben. Werner Jung weist darauf hin, dass „das Thema der Zwangsarbeit in der französischen Gesellschaft zunehmend verdrängt und tabuisiert“ worden sei. Erst Anfang der 2000er Jahre ist es in Frankreich, Deutschland und Österreich zu Entschädigungen für Zwangsarbeit gekommen. Werner Jung schreibt: „Es handelt sich um eine sehr späte Rehabilitierung für die Opfer der Zwangsarbeit.“
Das Pariser Desinteresse von 1946 führte dazu, dass Charrin die Bilder nie mehr öffentlich gezeigt hat. Erst eine Präsentation im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, das seit langem schon die Zwangsarbeit erforscht, schloss im Jahre 2016, nach mehr als 70 Jahren, diese Quelle wieder auf. Drei Jahre Jahre später erhielt das NS-Dok sämtliche Zeichnungen, Karikaturen und Dokumente des 2007 verstorbenen Künstlers aus der Hand seiner Witwe Anne Charrin. Aus diesem Fundus schöpfen nun das Buch und eine zweite, erweiterte Ausstellung zum Werk: „Philibert & Fifi“.

Das irrwitzige Grinsen des Strichmännchens
Es gibt vieles zu entdecken auf diesen Bildern. Nicht alles erschließt sich unmittelbar. Doch ein Anmerkungsteil hilft da und dort auf die Sprünge. Selbst Zeichnungen, die auf den ersten Blick harmlos wirken, haben zuweilen einen doppelten Boden. Klar ist: Philibert Charrin spart nicht an Ironie und Selbstironie. Die Österreicher, auf deren Boden er schuftete, zeichnet er stets in ihrer Tracht mit Gamsbart, Pfeifen und Hirschhornknöpfen. Sich selbst porträtiert er auf einem Bild als Dreijährigen, der mit einer Kinderschaufel im Sandkasten spielt, und als 23 Jahre alten Zwangsarbeiter mit einer schweren Schaufel auf einem Erdhügel. Die Unterschrift lautet: „Ils ont grandi – So wird man älter“.
Dass es unter den Zwangsarbeitern „Klassenunterschiede“ gab, wird nicht kaschiert: Allemal waren die Lebensumstände für Osteuropäer besonders hart. Ebenso werden die miesen Unterkünfte beleuchtet, in denen in einem Fall ein Zwangsarbeiter – fast wie im Märchen – sieben Wanzen auf einen Streich erlegt. Auch Sabotageakte geraten ins Bild. Stark sind nicht zuletzt Charrins Hitler-Karikaturen, die den Diktator als Bomben speienden Schreihals und als Ortschaften zertrampelnden Marschierer zeigen.
Bei Fifi, von dem im Titel „Philibert & Fifi“ die Rede ist, handelt es sich um ein Strichmännchen. Es ist mit seinem breiten Grinsen auf fast allen Karikaturen vertreten. Mal versteckt es sich unter einem Arm oder hinter einem Schaufelstiel, mal am Bug der Arche Noah oder als Tattoo am Oberarm einer Dame. Es ist ein geradezu unheimliches Grinsen gegen die Unmenschlichkeit des NS-Terrors.
Martin Oehlen
Ausstellung des NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln im El-De-Haus, Appellhofplatz 23-25, bis 30. Januar 2022.

Werner Jung (Hrsg.): „Philibert & Fifi – Karikaturen eines französischen Zwangsarbeiters“, dreisprachige Ausgabe mit Übersetzungen von Maria Julia Trilling (ins Englische) und tonwelt (ins Französische), Eigenverlag des NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, 272 Seiten, 15 Euro zuzüglich Versandkosten.
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