Schreiben in einer zerstückelten Welt: Japans Starautorin Sayaka Murata spricht in Köln über ihren Blick ins Aquarium und die Pandemie

Mit dem traditionellen Rollenbild finden sich Sayaka Muratas Heldinnen nicht so schnell ab. Foto: Bücheratlas

Beim dritten Versuch hat es geklappt! Schon vor eineinhalb Jahren sollte Sayaka Murata im Japanischen Kulturinstitut in Köln auftreten. Doch dann kam die Pandemie dazwischen. Auch ein zweiter Anlauf musste abgebrochen werden. Doch nun konnte Japans internationale Starautorin, die mit ihren Romanen „Die Ladenhüterin“ und „Das Seidenraupenzimmer“ auch im deutschsprachigen Raum gefeiert wird (und die auf diesem Blog bereits HIER und HIER vorgestellt wurden), nach Europa reisen. Dabei wurde sie in Köln begleitet von Ursula Gräfe, die Muratas Prosa für den Aufbau-Verlag übersetzt hat. Die Übersetzerin als Moderatorin kündigte gleich zu Beginn der Veranstaltung an, dass für das kommende Jahr ein Band mit Erzählungen vorgesehen sei, der den Arbeitstitel „Zeremonien des Lebens“ trage.

Das wird dann gewiss wieder eine Prosa sein, die den Auffälligkeiten und Abgründen im Alltag nachspürt – also dem ganz normalen Wahnsinn. Allerdings steuert Sayaka Murata ihre Themen nicht zielgerichtet an, sagte sie auf der Bühne. Es sei also ganz und gar nicht festgelegt, wohin jeweils die Reise gehe: „Beim Schreiben werde ich zum Werkzeug meiner Geschichten. Das ist wie ein Aquarium, in das ich hineinschaue und aus dem ich dann die interessantesten Objekte zu fischen versuche.“  

Im Zentrum des Kölner Abends – vorweg gab es einen in Berlin und ein weiterer steht in Zürich an – stand ihr preisgekrönter Roman „Die Ladenhüterin“. Der handelt von einer jungen Frau, die sich als Angestellte in einem „Konbini“-Laden sehr wohl fühlt. Das ist ein für Japan typischer, aber in Deutschland unbekannter Ladentypus, in dem nicht nur Lebensmittel und Konzertkarten angeboten werden, sondern wo die Kunden auch Geld abheben oder Gepäck lagern können.

Keiichi Aizawa, Direktor des Japanischen Kulturinstituts in Köln, nahm sich bei seiner Einführung einige Zeit, um ein Loblied auf diese „Convenience stores“ zu singen, vor allem auf die zuvorkommende Behandlung der Kundschaft, die in Japan Tradition habe. Solchen Service vermisse er in Deutschland sehr, wie er unumwunden bekannte.

Keiko ist die Ich-Erzählerin des Romans, die sich nicht so recht den Erwartungen der japanischen Gesellschaft an Frauen und Mädchen fügen will. Allerdings scheint sie nicht unter dem Druck zu leiden. Jedenfalls findet sie für sich eine Lösung, um den lästig-indiskreten Fragen nach Partner, Ehe, Kindern den Boden zu entziehen: Sie holt sich einen trägen Kollegen in die Wohnung, den sie in ihrer Badewanne gleichsam ablegt.

Dass Keiko nicht zerbricht, sondern sich zu helfen weiß, macht sie in den Augen ihrer Autorin zu einer „Heldin“. Allerdings räumte Sayaka Murata ein, dass vor allem Leserinnen hier ein Happy End erkennen – bei Männern sei die Deutung zuweilen eine andere.

Ausführlich ging Sayaka Murata auf die Fragen ein. Auf die nach einer möglicherweise „übersexualisierten Gegenwart“ (eher nicht) und nach ihrem Interesse an der Vorzeit (sehr groß). Und welchen Einfluss hat die Pandemie auf sie als Schriftstellerin gehabt, wurde aus dem Publikum gefragt. „Ich habe bis zum Ausbruch der Pandemie immer in einem Café gesessen und geschrieben“, antwortete die Autorin. „Das war mein normaler Arbeitsalltag.“ Als dann der Shutdown kam, sei dies eine große Veränderung gewesen. Plötzlich habe sie sich mit einem Platz auf ihrer Terrasse begnügen müssen.  „Auf einmal war die Welt zerstückelt und nicht mehr fließend. Es war so, als lebte jeder und jede in seiner eigenen Kapsel.“ Dadurch hätten sich viele Menschen verändert, meint sie. Selbst bei einer engen Freundin sei ihr das aufgefallen.

Merkwürdige Zeiten sind das. Aus diesem „Aquarium“ lassen sich sicher noch viele Attraktionen für einen Sayaka-Murata-Roman fischen.

Martin Oehlen  

Bei diesem Auftritt übersetzte Heike Patzschke das Gespräch und las Barbara Conrady-Takenaka vier Passagen aus der deutschen Fassung der „Ladenhüterin“.

Auf diesem Blog finden sich Besprechungen der Romane „Die Ladenhüterin“ (HIER) und „Das Seidenraupenzimmer“ (HIER).

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