Die einzige Frau beim Giro d’Italia: Simona Baldellis Roman über „Die Rebellion der Alfonsina Strada“

Foto: Bücheratlas

Am schlimmsten war die achte Etappe des Giro d’Italia im Jahre 1924. Die führte von L’Aquila nach Perugia. 296 Kilometer bei Regen und Kälte über den Apennin. Plötzlich rutscht der Startnummer 72 das Rad weg. Alfonsina Strada stürzt nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Doch diesmal ist es besonders heftig. Vor allem: Der Lenker ist gebrochen. Begleitfahrzeuge mit Ersatzteilen gibt es in der Steinzeit des Radrennens noch nicht. Schon denkt die Sportlerin ans Aufgeben. Da naht eine Bäuerin. Kurzerhand verwandelt sie einen Besenstiel in einen Ersatzlenker. So radelt Alfonsina Strada weiter mit einem notdürftig verschnürten Holzstück über die Berge. Um neun Uhr abends erreicht sie das Ziel – mit einem Abstand von drei Stunden, 43 Minuten und 22 Sekunden auf den Tagessieger. Was für ein Triumph.

Besenstiel als Lenkrad-Ersatz

Das Schöne an dieser Geschichte ist, dass sie der Wahrheit entspricht. Nicht nur gab es die Rennfahrerin Alfonsina Strada (1891-1959), nicht nur wurde ihr Holzlenker zu einer berühmten Trophäe. Auch war sie die erste Frau, die an diesem Radrennen der Männer teilgenommen hat. Und die einzige. Dafür gibt es einige Gründe. Nicht zuletzt konnten die Veranstalter eine solche weibliche Sensation gut gebrauchen, um auf die Rundfahrt aufmerksam zu machen. Vor allem aber kämpfte Alfonsina Strada beharrlich dafür, sich mit den Männern messen zu dürfen.

Mit einem Trick gelangte sie ins Starterfeld. Bei der Anmeldung hatte man bei ihrem Vornamen das letzte „a“ weggelassen. Doch spätestens beim Start war allen klar, mit wem sie es zu tun hatten. Das Gemisch der Emotionen kann man sich leicht vorstellen. Schließlich galt es konservativen Kreisen als unschicklich, wenn Frauen ihre Kräfte zeigten. Gut, auf dem Feld und im Haus durften sie zupacken. Aber doch nicht zum Vergnügen in aller Öffentlichkeit. Und dann noch so: in kurzen Hosen!

Das Fahrrad des Vaters

Alfonsina Strada wuchs in ärmsten Verhältnissen in Fossamarca auf. Sie durfte nur zwei Jahre zur Schule gehen. Danach musste sie als Schneiderin Geld ranschaffen. Als der Vater eines Tages mit einem Fahrrad nach Haus kommt, war es um sie geschehen. Zwar warnte das Familienoberhaupt, dass niemand das kostbare Gefährt anfassen dürfe. Doch die Verlockung war zu groß: „Durch das Fahrrad lernte Alfonsina den Ungehorsam.“ So wurde sie zur „Corridora“.

Simona Baldelli erzählt in dem ersten ihrer Romane, der auf Deutsch erscheint, mit großer Sympathie von der „Rebellion der Alfonsina Strada“. Dabei legt sie viel Wert darauf, nah an den Fakten zu bleiben. Auch zitiert sie aus italienischen Zeitungen, wodurch eklatant deutlich wird, wie ungewöhnlich der Weg der Alfonsina Strada war. Gleichwohl erlaubt sich die Autorin die eine oder andere Fiktion. Daher sind wir immer nah dran am Denken und Fühlen der Alfonsina, hören ihr zu, wenn sie mit den Geistern der Verstorbenen spricht. „Die kleinen Toten“ sind immer da, wenn die Lage ernst ist. Und das ist nicht selten der Fall: Stress mit der Familie, Strapazen im Sattel, die Weltkriege und der Ehemann in der Nervenheilanstalt.   

Radrennen mit Smalltalk-Pausen

„Die Rebellion der Alfonsina Strada“ ermöglicht auch einen Einblick in die frühe Zeit des Radrennens. Schaut man sich den Sport im 21. Jahrhundert an, dann kann man sich kaum vorstellen, dass die Stars der Szene, dass eine Elisa Longo Borghini oder ein Primoz Roglic damals hätten bestehen können. Immerhin waren die Sportler zumeist auf sich allein gestellt und mussten selbst in der Lage sein, einen Reifen zu flicken. Andererseits konnten sie es sich zuweilen leisten, am Wegesrand eine Pause einzulegen oder mit den Zuschauern ein paar Worte zu wechseln.

Simona Baldellis Sportlerinnenroman handelt nicht nur von einer außerordentlichen Karriere, sondern im gleichen Maße von einer beeindruckenden, geradezu unbekümmerten Emanzipation. „Die Einstellung, dass Frauen nichts wert waren“, heißt es im Roman, „einte sie alle: Faschisten, Sozialisten, Kommunisten und Geistliche.“ Doch da machte Alfonsina Strada nicht mit.

Stundenweltrekord in Paris

Sie begreift schnell, dass Männer nicht alles besser wissen – nicht der übellaunige Vater, nicht der prügelnde Chef der Schneiderei, nicht die Sportsfreunde. Alfonsina flieht aus der häuslichen Enge und lässt sich nicht abwimmeln. Auch die vielen Beleidigungen – „Irre“, „Nutte“, Teufel im Rock“ – entmutigen sie nicht. Als sie ihr erstes Rennen gewinnt, bekommt sie ein Schwein als Prämie. In Sankt Petersburg überreicht ihr die Zarin eine Medaille. Bei der Lombardei-Rundfahrt im Weltkriegsjahr 1917 wird sie Letzte – doch von den 53 Männern am Start hatten 20 nicht einmal das Ziel erreicht. Im Jahr darauf wird sie 21. – und ließ einige Männer hinter sich. Dann die 3600 Kilometer des Giro d’Italia. Niemals zuvor und niemals danach hat eine Frau diese Rundfahrt mitgemacht. Schließlich gelingt ihr 1938 noch ein Stundenweltrekord für Frauen in Paris. Dann ist die Welt schon wieder im Krieg. 

Mag sein, dass Simona Baldelli ihrer Heldin einen besonders hohen Sockel errichtet hat. Alfonsina Strada ist hier nicht nur eine beeindruckende Athletin, sondern auch eine Wohltäterin, die gerne gibt, wenngleich sie selbst nicht viel hat. Andererseits möchte man auch diese Mildtätigkeit für möglich halten. Allemal ist dies der Roman einer faszinierenden Person und Karriere. Mit einigem Nachdruck wird darin immer wieder „Luna 2“ ins Spiel gebracht: Die sowjetische Sonde schlug am 14. September 1959 erfolgreich auf dem Mond ein, ein Tag nach dem plötzlichen Tod der Alfonsina Strada. Geschichte haben sie beide geschrieben. Im All und auf der Erde.

Martin Oehlen

Simona Baldelli: „Die Rebellion der Alfonsina Strada“, dt. von Karin Diemerling, Eichborn, 334 Seiten, 22 Euro. E-Book: 15,99 Euro.

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