Auf diesem Blog soll es um Bücher und Reisen gehen. Das mit den Büchern klappt ganz gut. Nur die Sache mit dem Reisen hakt. Hakt gewaltig. Da ist man damit beschäftigt, die Reisepläne der neuesten Corona-Lage anzupassen – und zuhause zu bleiben. Eine Juist-Woche, die an diesem Wochenende beginnen sollte, habe ich streichen müssen. Gewiss gibt es Schlimmeres. Und Sicherheit geht vor. Gleichwohl – von der daraus resultierenden Gemütslage ist hier die Rede. Den Anstoß dazu gab Anne Burgmer, die mich um einen Beitrag für die Reihe „Was fehlt“ im Kulturteil des „Kölner Stadt-Anzeiger“ gebeten hatte. Dort ist der Text zuerst erschienen.

Am sichersten ist es in der Nacht. Wenn im Fernsehen alte „Tatort“-Folgen laufen. Wenn im Radio Instrumentalmusik dudelt und der Computerbildschirm dunkel ist. Dann höre ich auf, vom Reisen zu träumen, von Orten, die ich gern wiedersehen, und von anderen, die ich noch kennenlernen möchte. Tagsüber ist das schwierig. Zu vieles erinnert mich dann an das, was ich zurzeit am meisten vermisse: das Reisen, das Unterwegssein, den Aufbruch in die Welt.
„Lass uns gehen, lass uns gehen, lass uns gehen“, plärren „Revolverheld“ aus dem Lautsprecher. Ich plärre mit und träume von Paris, Rio, Tokyo. Schaue am Wochenende Reiseberichte im Fernsehen: „Verrückt nach Fluss“, „Faszination Afrika“, „Slowakische Nationalparks“, „Im Wolfsgebirge in den Karpaten“, „Mongolei – die Zukunftsträume einer jungen Nomadin“ und „Mythos Nil“. Bei Tee und Kuchen träume ich mich weg aus Köln. Genau dort möchte ich jetzt sein, am Ufer des Nils, in Afrika, in Ulan Bator mit Batma, Urgee und Dolma. Auch eine Reise in „Das grüne Herz Westfalens“ oder eine „Landpartie auf Pellworm“ wären mir recht.
Der Flug zum Jupiter
Selbst der frei aufspielende Bildschirmschoner verstärkt nach mehr als einem Jahr Pandemie mein nagendes Fernweh. Fast jeden Tag zeigt er ein anderes Reisemotiv und lässt mich von der Atacamawüste in Chile, von Florenz und den Ruinen von Machu Picchu träumen. Koffer packen, Tür abschließen und raus aus dem Haus. Raus aus der Stadt. Zum Bahnhof, zum Flughafen oder auch nur hinein in die Garage. Doch ich komme nicht los, wir alle sitzen fest, seit Monaten schon. Der Traum vom Reisen – derzeit so unerfüllbar wie ein Flug zum Jupiter. Es geht nicht anders, ich sehe das ein. Wie sonst soll man ein Virus am Reisen hindern, wenn nicht durch die Beschränkung der eigenen Freiheiten?
Am Anfang der Pandemie war das kein Problem. Eine lange Reise lag erst wenige Monate hinter mir. Noch zehrte ich davon. Im Sommer hielt Corona für ein paar Wochen den Atem an, es taten sich Flucht-Löcher auf in Italien, in Österreich und der Schweiz. Südfrankreich, eben erst als Reiseziel angedacht, war schon wieder dicht – ein Risikogebiet, dessen Betreten sich von selbst verbat. An Urlaube jenseits von Europa wagte ich nicht einmal zu denken.
In einem Restaurant am Gardasee maß der Kellner mit einer Fieberpistole meine Temperatur, bevor er mir mit spitzen Fingern die Speisekarte reichte. In den engen Gassen von Venedig wandte ich hastig den Kopf zur Seite und hielt sogar den Atem an, wenn mir jemand entgegenkam. In einem Hotel in Österreich ging man so lässig mit dem Virus um, dass ich freiwillig zur Maske griff. Doch ich war unterwegs, ich war auf Reisen. Endlich wieder. Doch die Kreise wurden kleiner.
Eine vorerst letzte Fahrt im Herbst 2020 ging in die Pfalz, ein 48-Stunden-Abenteuer zwischen Rebstöcken und den sanften Hügeln des Pfälzerwaldes, das sich bis heute nicht wiederholen ließ. Die Google-Maps-Timeline verzeichnet nur noch besuchte Orte in Nordrhein-Westfalen. Das ist ziemlich erschütternd.
Von Wurzeln und Flügeln
Warum mir das Reisen mehr fehlt als alles andere in diesen Monaten? Weil der Mensch beides braucht, schreibt der Reiseschriftsteller Andreas Altmann in seinem Buch „Gebrauchsanweisung für Heimat“: „Wurzeln, das wäre die Heimat, und Flügel, das wäre die Welt.“ So hat uns die Pandemie unserer Flügel beraubt und zu Nesthockern gemacht, die das Fliegen erst wieder lernen müssen. Wer stets zu Hause bleibt, der gerät in Gefahr, die eigenen vier Wände für die ganze Welt zu halten.
Odysseus irrlichterte zehn Jahre über das Mittelmeer, ehe er, einen Sack voller Erfahrungen im Gepäck, zurückfand in den heimischen Hafen. Christoph Kolumbus zog es Richtung Indien, wo er freilich nie ankam. Stattdessen setzte er 1492 seinen Fuß auf „amerikanischen“ Boden und erweiterte das Weltbild der Europäer um einen weiteren Kontinent. Der britische Seefahrer James Cook reiste dreimal in die Südsee und lernte, dass die Terra Australis, an deren Existenz die Alte Welt rund 1700 Jahre geglaubt hatten, nichts anderes war als ein großer Irrtum.
Gut, wer heute reist, ist kein Odysseus, kein Kolumbus oder James Cook. Doch auch der Tourist bekommt den Kopf frei und gewinnt neue Erfahrungen. Der kreist nicht allein um sich selber, sondern schärft den Blick für das, was anders ist als das Gewohnte. Das schafft kein Radiosong, kein Reisebericht, kein kunterbunter Bildschirmschoner. Auch wenn all das kleine Trostpflaster sind für die Fernsüchtigen dieser Welt. Bis wir endlich wieder losziehen dürfen. Koffer packen. Tür abschließen und raus aus dem Haus.
Petra Pluwatsch