
Chastity Riley in Schockstarre. Bewegungslos liegt die Hamburger Staatsanwältin im Park unter einem Rhododendronbusch. „Die Rhododendronblüten liegen wie schwer beladene Schiffe auf Blättern, ich liege möglichst gedankenlos darunter.“ Die blutige Geiselnahme während der Abschiedsfeier eines Kollegen hat sie „in die Hölle gebombt“. Doch Chastity „stand ja noch nie auf besonders festem Grund“.
„River Clyde“ ist der zehnte Band der Chastity-Riley-Reihe von Simone Buchholz und spielt einige Monate nach dem Vorgängerband „Hotel Cartagena“. Nicht nur Chastity, auch die Kollegen und Freunde sind in ihren Grundfesten erschüttert, seit sie Opfer eines durchgeknallten Drogendealers wurden. „Der große Knall oben in dieser Hotelbar, der Schuss, auf den eine Explosion folgte, hat nicht nur eine Geiselnahme beendet und eine Fensterfront in Stücke gesprengt, sondern auch unsere Seelen in Fetzen gerissen.“
Chastidy flieht vor dem Aufruhr in ihrer Seele in das schottische Glasgow, wo ihre Vorfahren herstammen. Eine unbekannte Frau hat ihr dort ein Haus hinterlassen. Wie ein Zombie taumelt sie durch die Straßen der unbekannten Stadt, findet einen Gefährten für die Nacht, findet neue Freunde, mit denen sie ein paar Stunden verbringt, ehe sie zurückkriecht in die Höhle ihres Hotelzimmers. Die Reise nach Glasgow gerät schon bald zum großen Reinigungsprozess einer zutiefst einsamen Frau, die sich ein Leben lang davor gedrückt hat, sich ihrer Trauer, ihrer Wut, ihren seelischen Verletzungen zu stellen. „Ich lasse mich von dem Gefühl mitschleifen, und ich frage mich, wann und wo ich eigentlich aus der Bahn gerutscht bin, ob es der Moment war, in dem meine Mutter und verlassen hat, oder die Teenagerzeit, in der es mir unmöglich schien, zuverlässig bei irgendwem oder irgendwo anzudocken. Ob es der Morgen war, als ich meinen toten Vater fand, oder all die Jahre, in denen ich den Rand der Gesellschaft durchsuchte und über immer mehr Tote und Verwundete stolperte.“
Erzählt wird all das im typischen Simone-Buchholz-Stil: pointenreich, selbstironisch und mit einer gewissen elaborierten Schnoddrigkeit, die der Geschichte die Schwere nimmt. Chastidy, soviel sei verraten, wird beginnen, die eigenen Defizite als Teil ihrer Geschichte zu akzeptieren. Was auf ein nahezu euphorisches Ende dieses wunderbaren Buches hindeutet. Dazu bedarf es vieler Kneipenbekanntschaften, eines sprechenden Hirschs, eines emphatischen schottischen Flusses und eines whiskeytrinkenden Gespenstes, das Chastity verblüffend ähnlich sieht.
Ach ja, ein paar Morde gibt es auch noch. Aber die finden im fernen Hamburg statt. Und spielen allenfalls eine Nebenrolle in diesem psychologischen Meisterstück.
Petra Pluwatsch
Auf diesem Blog findet sich eine Besprechung von Simone Bucholz‘ Kriminalroman „Hotel Cartagena“ genau HIER .
Simone Buchholz: „River Clyde“, Suhrkamp, 230 Seiten, 15,95 Euro. E-Book: 13,99 Euro.

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Lieber Wolfgang – vielen Dank fürs freundliche Empfehlen! Das freut uns sehr. Herzliche Grüße, Petra und Martin
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