
Meine Fresse“ ruft ein Walache aus. Und eine Touristin formuliert bei anderer Gelegenheit: „Holy shit!“ Ja, hier ist was los! Grünes Gas wabert durch eine Familiengruft, blutgefrierende Schreie gellen durch die Nacht. Dann ist da auch noch diese leidige Sache mit dem Pfählen unwillkommener Mitmenschen. War damit zu rechnen? Vielleicht. Denn wir befinden uns in der Walachei, wo weiland Graf Dracula seine Herrschaft ausübte. Mittlerweile sind allerdings ein paar Jahrhunderte vergangen. Die Diktatur von Nicolae Ceausescu ist in Rumänien gerade zu Grabe getragen worden. Doch was einst war, ist nicht unbedingt vergangen.
„Manche von Ihnen werden die Geschehnisse im Kontext jener barbarischen kommunistischen Zeit verstehen wollen, als Folge der vierzig Jahre währenden Diktatur in Rumänien“, sagt uns die Erzählerin in Dana Grigorceas Roman „Die nicht sterben“. Und diesen Kontext hält sie für durchaus angebracht. Denn vom Fluch des Kommunismus, der damit verbundenen Korruption und Gewalt, ist direkt und indirekt oft die Rede. Doch damit erschöpft sich der Roman noch lange nicht. Vielmehr bietet er manche Rätsel und Untiefen. Kaum glaubt man die Geschichte im Griff zu haben, entgleitet sie einem schon wieder. Das ist beeindruckend und packend. Das nennt man Kunst.
Eine Insel in der Walachei
Die Ausgangslage ist klar: Die Erzählerin, die als Malerin in Paris ansässig ist, kehrt in ihre rumänische Heimat zurück, in die „Villa Aurora“ in der kleinen Stadt B. südlich von Transsilvanien, am Fuß der Karpaten gelegen. Es ist ein abgelegener Weltenwinkel. Wer eine Internet-Verbindung benötigt, muss einen Hügel erklimmen. Hier führt die Großtante Margot, liebevoll Mamargot genannt, ein großbürgerliches Haus, mit einem wild wuchernden Garten und einem rotsandigem Tennisplatz (wie ihn Grigorcea auf ihrer Homepage als Kindheitserinnerung zeigt). Man lästert über die Kommunisten von einst und erfreut sich ansonsten der Geselligkeit: Mamargot und die Ihren könne nichts brechen, sagt die Herrin der Villa.
Allerdings stürzt bei einer Wanderung in den Wäldern eine der Besucherinnen in den Tod. Als sie in der Familiengruft beigesetzt wird, stellt sich heraus, dass sich dort auch das Grab von Vlad dem Pfähler befindet, dem historisch nachweisbaren und in Volksmund, Buch, Kino zum Blutsauger mutierten Grafen Dracula. Der durchschnittlich korrupte Bürgermeister Sabin, eine Art Peppone aus der Walachei, ist gleich auf Sendung – ein Dracula-Park müsse her.
Dann das: In der Familiengruft wird ein Leichnam entdeckt, der dort nicht hingehört. Es handelt sich um Traian, eine Jugendliebe der Erzählerin, an dessen Karies-Zähne sie sich gut erinnert. Wer hatte den Toten dort abgelegt? Und warum weist Traian Spuren einer Pfählung auf? Ja, einmal im Mysteriösen angekommen, geht es kauzig weiter. Nächtens kommt es zu seltsamen Flugbewegungen, zu surrealen Phänomenen, zu einer Potenzierung der Sinneskräfte, zu Szenen von Blut und Gewalt und Rache. Mittendrin: Unsere Erzählerin. Träumt sie all das oder erlebt sie es tatsächlich?
Google oder Großes Latinum
Dana Grigorceas wild rauschender Roman beschäftigt die Leserinnen und Leser über die letzte Seite hinaus. Der Autorin – 1979 in Bukarest geboren und in der Schweiz lebend, zuletzt gefeiert für ihre Novelle „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ – gelingt es vorzüglich, ein atmosphärisches Dickicht zu erschaffen. In kräftigen Farben zeichnet sie eine Welt zwischen Archaik und Idylle.
Ein Schauerroman der anderen Art ist das, mit allerlei satirisch-grotesken Aufhellungen. Geschildert in einer opulenten Sprache. Und mit vielen originellen Details, prosaischen Glutnestern wie dem vom Kleinwüchsigen, der mit großem Vorschlaghammer zur Beerdigung kommt, um eine Gruft zu öffnen, und der auf seiner rechten Hand ein Quincunx grün eintätowiert hat, die Fünf auf dem Würfel, was im Gefängnis als Zeichen dafür gilt, „allein zwischen vier Wänden“ zu sein. Ist für den Plot nicht zentral. Aber es schmückt ungemein.
Noch so eine Bizarrerie ist das Kapitel „Ex ossibus ultor“. Das ist gespickt mit lateinischen Zitaten, derer man nur Herr wird mit Google oder Großem Latinum. Darunter ist ein Spruch, den man aufs Leben in einer Diktatur münzen könnte: „Qui tacet, consentire videtur!“ – Wer schweigt, macht sich mitschuldig.
Walachisches Fresco mit Dämon
Nicht zuletzt ist dies ein Roman, der die historisch überlieferte Geschichte des Grafen Dracula wiedergibt: Vlad III. (um 1431 – um 1477). Inklusive einer schwierigen Kindheit – immerhin ist er vom Vater Vlad II. als Pfand beim Sultan zurückgelassen worden. Selbstverständlich ist auch vom Kampf gegen die Osmanen die Rede. Und vom Wald der Gepfählten. Überhaupt von seiner Kernkompetenz als brutaler Rächer. Wer meint, Bram Stoker habe in seinem Roman alles über Dracula gesagt, der irrt. Zumal umstritten ist, ob Stoker den Fürsten überhaupt als Inspiration für seinen Vampir auserkoren hatte.
„Die nicht sterben“ ist ein Roman über die Suche nach der Kindheit, über die dicken Spinnfäden aus der Vergangenheit, über den Dracula-Mythos und die Lust am Leben. Ein Buch zwischen Wachen und Träumen, Vergangenheit und Gegenwart, Fakt und Fiktion. Dana Grigorceas namenlose Erzählerin lässt uns wissen, dass sie ein walachisches Fresko mit einem ganz bestimmten Dämon im Zentrum habe zeichnen wollen. Es ist ihr zum Schaudern schön gelungen.
Martin Oehlen
Premierenlesung mit Dana Grigorcea am 11. März 2021 um 19.30 Uhr im Literaturhaus Köln (virtuell).
Dana Grigorcea: „Die nicht sterben“, Penguin, 264 Seiten, 22 Euro. E-Book: 17,99 Euro.
