
Stell dir vor, du wachst morgens auf und weißt nicht, wo du bist. Ein Typ, den du noch nie gesehen hast, erklärt dir, dass du einen Unfall hattest und dein Kurzzeitgedächtnis nicht mehr funktioniert. „Anterograde Amnesie“ nennt man das. Dann drückt er dir eine Kladde in die Hand, in der du nachlesen sollst, was in den Monaten nach deinem Unfall passiert ist. Hast du alles selber aufgeschrieben, aber auch daran erinnerst du dich beim Aufwachen nicht mehr. „Klar ist das scheiße“, sagt Paul. „Total. Aber irgendwie denke ich, ich darf was sehen, was andere nie sehen dürfen.“
450 Tage sind vergangen, seit der 19-Jährige weiß, „dass seit gestern alles anders ist. Jeden Tag der Anfang, nie die Fortsetzung.“ Ein nächtlicher Unfall während eines „Abiturkriegs“ hat Pauls Gedächtnis geschädigt und alle seine Zukunftspläne zunichte gemacht. Jetzt lebt er in einer Rehaklinik und hält Tag für Tag in seinem gelben Buch fest, was er denkt, fühlt und erlebt. „Ich muss eine Kopie ziehen von dem, was in mir ist, damit sie sich ein anderer – ich – draufladen kann.“
Löschtaste fürs Gedächtnis
Doch dann erhält er einen Brief von einem Schulfreund. Khalil schreibt, er plane einen Anschlag, um auf den „kranken Irrsinn“ in Syrien aufmerksam zu machen. Und Paul handelt. Zum ersten Mal seit 450 Tagen. Gemeinsam mit seinem Freund Finn bricht er auf nach Berlin, um Khalil von seinem wahnsinnigen Plan abzubringen. Für Paul und Finn beginnt damit die Reise ihres Lebens – ein Roadtrip mit Langzeitwirkung, an dessen Ende sie wissen, wer sie sind und was sie wollen. Oder es zumindest irgendwann wissen werden.
Dem renommierten Kölner Drehbuchschreiber Orkun Ertener, unter anderem Autor mehrerer „Tatort“-Krimis, ist mit seinem zweiten Roman „Was bisher geschah – und was niemals geschehen darf“ ein wunderbar lebenskluges Buch über den Selbstfindungsprozess von zwei jungen Menschen gelungen, die sich erst vorsichtig hineintasten müssen in diese Welt. Beide stehen auf schwankendem Boden: Paul, dessen Gedächtnis jede Nacht die Löschtaste drückt. Finn, der seine Lebensangst mit Drogen in Schach hält. „Wenn ich einen Schritt in eine Richtung gehe, dann gehe ich auch einen Schritt in die andere Richtung“, versucht er einer Freundin seinen Zustand zu beschreiben. „Wenn ich etwas mache, mache ich gleichzeitig auch das absolute Gegenteil. Obwohl ich längst außer Atem bin und nicht mehr kann, sieht es aus, als wäre ich nicht vom Fleck gekommen. Das stimmt auch. Ich stehe da und rühre keinen Finger.“
Auch seine liberalen Eltern bieten Finn keinen Halt. Im Gegenteil: Ihr Langmut und ihr Bemühen, den Sohn seinen eigenen Weg gehen zu lassen, verstärken dessen Orientierungslosigkeit. „Ich hätte alles sagen können: Ich bin schwul. Ich sammle ab jetzt benutzte, genoppte Kondome. Dann hätten sie mich unterstützt oder versucht, mich von irgendetwas zu überzeugen. Wenn du sagst, du weißt nicht, du hast keine Meinung, keine Haltung, kein Ziel – dann lädst du eine Schuld auf dich, die nicht größer sein kann.“
Entwicklungsroman im Turbo-Tempo
Die Reise auf den Spuren Khalils führt die Freunde von Berlin nach London und weiter zum G20-Gipfel nach Hamburg. Vieles klärt sich in diesen wenigen Tagen. Erinnerungen stellen sich als falsch, vermeintliche Wahrheiten als Lügen heraus, und irgendwann fühlt sich der Leser mindestens so verwirrt wie Paul, der sich morgens nach dem Aufwachen seine eigene Geschichte zusammenpuzzlen muss.
Orkun Ertener zwingt seine Protagonisten, Dinge zu hinterfragen, und ebnet ihnen damit den Weg zu einem freien Blick auf andere und erst recht auf sich selber. Ein Entwicklungsroman im Turbo-Tempo, der psychologisch überzeugt. Und obendrein sehr spannend ist.
Petra Pluwatsch
Orkun Ertener: „Was bisher geschah – und was niemals geschehen darf“, Fischer Scherz, 336 Seiten, 20 Euro. E-Book: 16,99 Euro.
