Hawaiianisch, Irokesisch oder Unserdeutsch? Der „Atlas der verlorenen Sprachen“ gewährt Einblick in ein Paradies

Arabana – so heißt die Wüstenerbse in der Sprache der Wangkangurru in Australien. Foto: Bücheratlas

Welche Sprache ist verloren, welche droht zu verschwinden, wo besteht neue Hoffnung? Wer kennt kaum ein Zahlwort und wem gehen bei einer Liebeserklärung die Vokabeln aus? Wo wird geklickt, wo gepfiffen, wo getrommelt? Rita Mielke (Text) und Hanna Zeckau (Illustration) legen nun in ihrem „Atlas der verlorenen Sprachen“ eine Bestandsaufnahme vor.

Auf jeweils wenigen Seiten werden ausgewählte Sprachen vorgestellt in Wort und Bild – nicht nüchtern, sondern voller Empathie, nicht schematisch, sondern individuell, nicht fachspezifisch, sondern allgemeinverständlich und munter. Mal rückt ein Forscher in den Vordergrund, der sich verdient gemacht hat, mal eine Silbe, die den großen Unterschied ausmacht. Ja, man wünschte sich bei jedem dieser 50 Porträts, noch tiefer eindringen zu können in Geschichte und Gestalt. So unterhaltsam, so animierend ist dieser famose Atlas.

Einer Hochrechnung zufolge gab es bis zu 12.000 Sprachen auf der Welt. Eine paradiesische Vielfalt. Heute sind es noch rund 7000. Da ist keine Sprache, die nicht unseren großen Respekt verdiente.

Hier ein paar Auffälligkeiten, die wir in dem Atlas angestrichen haben, der im Duden-Verlag erscheint. Selbstverständlich sind in dem Band noch viel mehr Sprachen und vor allem sehr viel mehr Fakten zu finden.

Asien

Ubychisch

Sehr, sehr speziell ist das Ubychisch aus dem Nordwestkaukasus, dessen letzter Sprecher, Tevfik Esenc, 1992 verstorben ist. Es hat die meisten Konsonanten weltweit – insgesamt 84 Reibe-, Knarr- und Zischlaute. Aber es gibt nur zwei Vokale – a und irgendetwas zwischen e und u. Orts- und Richtungsangaben werden penibel angegeben, aber „vage wird die Sprache, wenn es um Gefühle geht.“ Ein „Ich liebe dich“ heißt in der Übersetzung aus dem Ubychischen „Ich kann dich gut sehen!“

Chintang

Bei dieser Sprache aus dem nepalesischen Teil des Himalaya können in einem Wort die Silben vertauscht werden, ohne dass der Sinn verloren ginge – also „verloren“ würde auch in der Variante „lorenver“ verstanden werden. Und wer eine Silbe verdoppelt oder verdreifacht, will die Aussage nur hervorheben – wir stellen uns das bei „verloren“ gerne mal als „verlololoren“ vor. Klingt doch ganz gut.

Nushu

Unter den in vielerlei Hinsicht unterdrückten Frauen des alten China gab es in der Provinz Hunan das Schriftsystem Nushu, das eben nur von Frauen verwendet wurde. Es umfasst rund 1500 langgezogene, schmale Schriftzeichen, die ein Vokabular von 20.000 Wörtern auszudrücken vermögen. „Es sind Texte voller Tränen“, lesen wir bei Rita Mielke. Seit 2006 gilt Nushu in China als nationales Kulturerbe.  

Sentinelesisch

Im Golf von Bengalen wird die Sprache gesprochen, die von allen heute noch gesprochenen Sprachen womöglich die unbekannteste ist. Denn die Bewohner der Insel – weniger als 150 sind es – wehren sich gegen alle Kontakte mit der Außenwelt.

Maniq

Die Maniq bewohnen den Regenwald im Grenzbereich von Thailand und Malaysia. Ihre Spezialität sind die zahlreichen Bezeichnungen für Düfte und Gerüche. Auch bemerkenswert: Lange kamen sie ohne Zahlwörter aus. Inzwischen haben sie einige aus dem Malaiischen entlehnt. Aber nur 1, 2, 3, 4 – alles andere ist „viel“.  

Unserdeutsch

Das ist die Spur der deutschen Kolonialzeit auf dem Bismarck-Archipel in Papua-Neuguinea. Missionsschüler haben diesen Mix aus Deutsch und dem englisch-melanesischen Tok Pisin gesprochen. Unserdeutsch erinnert zunächst einmal an das brutale Schicksal der Kinder, die wohl nicht selten ihren Eltern abgekauft oder geraubt wurden, um aus ihnen fromme Christenmenschen zu machen. Die Sprache selbst hat heute noch rund 100 Sprecherinnen und Sprecher. Typisch für das „Kaputtene Deutsch“ ist, dass es nur den Artikel „de“ kennt, also kein der-die-das: „Wenn de baby weinen, de mama muss aufpicken.“

Amerika

Hawaiianisch

Das Hawaiianische mag Vokale. Ein Wort wie „beglaubigt“ klingt deshalb so: „hooiaioia“. Kombiniert mit Konsonanten wird’s noch schöner. Der Diamant-Picassodrückerfisch klingt auch schon auf Deutsch recht staatstragend. Aber was ist das schon gegen die hawaiianische Vokabel „Humuhumunukunukuapua’a“. Wenn es um den Regen geht, lassen sich die Hawaiianer auch nicht lumpen. Mehr als 200 Bezeichnungen sind aufgespürt worden – darunter der Nieselregen, aber auch der „Regen, der das Ende einer großen Liebe begleitet“. Für den „Wind“ soll es noch viel mehr Begriffe geben.

Nuu-cha-Nulth

Als James Cook 1778 an der kanadischen Nordwestküste vorbeisegelte, rief man ihm von Land aus zu: „Nu.tka.?icim“ Das sollte heißen: „Segelt da rum!“ Cook hielt es für den Namen des Küstenstrichs: „Nootka“. Heute wird die Sprache von kaum mehr als 100 Personen gesprochen.

Irokesisch

Die Irokesen im Osten Nordamerikas hatten neben ihrer Stammessprache auch eine ausgeprägte Gebärdensprache. Ein Strich mit dem Zeigefinger quer über die Stirn – das bedeutete Mann. Mit gespreizten Fingern durch die Haare kämmen – Frau.

Garifuna

Die Garinagu an der Atlantikküste Mittelamerikas verwenden einen „Genderlect“. Das heißt: Wenn eine Frau spricht, klingt es anders, als wenn ein Mann spricht. Meint ein Mann „nein“, sagt er: „inó“, und meint es eine Frau, sagt sie „uá“. Was das über die Gesellschaft aussagt, ist ungewiss. Fest steht allerdings, dass die oberste Gottheit der Garinagu eine Frau ist.

Bora

Im Amazonas-Urwald zwischen Kolumbien und Peru gibt es ein umfangreiches Trommel-Sprachsystem. Mit Hilfe der Trommeln aus ausgehöhlten Baumstämmen kann man sich über weite Strecken unterhalten. „Dreißig Millisekunden können dabei entscheidend sein“, schreibt Rita Mielke, um aus einem „Geh Fische fangen!“ ein „Bring Feuer mit!“ zu machen.

Yámana

Der Missionar Thomas Bridges veröffentlichte Ende des 19. Jahrhunderts ein Wörterbuch der Yámana. Die Feuerland-Indianer werden darin ob ihrer Differenzierungen gefeiert: „wuru“ heißt „viele“, „hulu wuru“ heißt „sehr viele“ und „yeka wuru“ heißt „noch ein paar mehr als sehr viele“. Bridges schrieb damals: „So unglaublich es auch erscheinen mag, so unbestritten ist, dass die Sprache eines der ärmsten Volksstämme weltweit, der über keine Literatur, keine Poesie, keinen Gesang, keine Geschichtsschreibung und keine Wissenschaft verfügt, in Vokabular und Struktur der Sprache vieler anderer höherstehender Stämme haushoch überlegen ist.“ Im März 2020, bei Abschluss des Manuskripts zum Sprachen-Atlas, gab es allerdings nur noch eine Sprecherin des Yámana.

Europa

Kornisch

Totgesagte leben länger. Zwar galt das Kornisch aus dem britischen Cornwall seit Ende des 18. Jahrhunderts als ausgestorben. Doch eifrige Bemühungen haben zu einer Wiederbelebung geführt. Seit 2002 wird Kornisch in Großbritannien als Minderheitensprache anerkannt. 2010 hat die Unesco die Klassifizierung „ausgestorben“ aufgehoben.

Saterfriesisch

Es handelt sich laut Guinness-Buch um die kleinste Sprachinsel in Europa. Das Saterfriesisch, das dem Alt-Englischen nähersteht als dem Niederdeutschen,  wird in den norddeutschen Gemeinden Scharrel, Ramsloh und Strücklingen gepflegt. Die heißen auf Saterfriesisch Skäddel, Roomelse und Strukelje.

El Silbo

Weltweit gibt es rund 40 Pfeifsprachen. Auf den Kanaren gehört El Silbo dazu. Früher hat El Silbo die gesprochene Guanche-Sprache ergänzt. Doch nur das Pfeifen ist geblieben. Damit lassen sich ganze Sätze formulieren – je nach Lautstärke, Tonhöhe und Unterbrechungen. Auf La Gomera wird El Silbo sogar an den Schulen unterrichtet.

Afrika

Supire

Die Supire leben in Mali. Ihre Sprache ist reich an französischen Lehnwörtern. Einmalig ist ihre Art zu zählen, denn ihnen genügen dazu 1, 2, 3, 4, 5, 10, 20, 80, 400. Da ist Kopfrechnen gefordert: „Einhundertneunundfünfzig“  entspricht „nkùù nà beetàànrè nà ke nà baar`cyeerè“ (in der Schreibweise gibt es noch ein paar Sonderzeichen, die hier nicht abgebildet werden können). Wie diese lange Zahl zustande kommt? Ganz einfach: 80 + 20 x 3 + 10 +5 + 4.

Khoisan

Schmatz- und Schnalzgeräusche sind eine Eigenheit der Khoisan-Sprachen im südlichen Afrika. Einst gab es rund 35 davon, heute nur noch wenige. Die größte ist die der Nama in Namibia. Beim Stamm der !Xóo können die fünf Grundklicks auf jeweils 17 unterschiedliche Arten modifiziert werden.

Australien

Wankangurru

Wie nähert man sich denen, deren Sprache man studieren will? Luise Hercus, in Deutschland geboren und in England ausgebildet, zog es 1950 nach Australien. Sie gilt Mielke als „der gute Geist der Aborigines“. Denn Hercus näherte sich den Ureinwohnern ohne die damals verbreitete Arroganz und Hybris. Bei den Wankangurrus im Süden des Landes stellte sie sich so vor: „Es tut mir leid, wenn ich euch Mühe mache. Aber ich möchte wenigstens einen kleinen Teil Eurer Sprache aufzeichnen und lernen. Sie ist einzigartig, und sie ist so komplex. (…) Im Englischen gibt es gerade einmal ‚Morgen‘ und ‚Nachmittag‘. Ihr habt neun verschiedene Begriffe für die wunderbaren unterschiedlichen Tageszeiten. Danke, dass ihr mir eure großartige Sprache beibringen wollt.“

Martin Oehlen

Rita Mielke (Text) und Hanna Zeckau (Illustrationen): „Atlas der verlorenen Sprachen“, Duden Verlag, 240 Seiten, 28 Euro.

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