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Olive Kitteridge hat ein spätes Glück gefunden. Jack Kennison heißt der Mann, mit dem die pensionierte Mathematiklehrerin aus Crosby im US-Bundesstaat Maine ihren Lebensabend verbringen will. Auch Jack ist nicht mehr jung, seine Karriere als Universitätsdozent in Harvard schon lange beendet, seine Blase führt seit einer Prostataoperation ein Eigenleben.
Doch zu zweit lassen sich die Maläste des Alters besser ertragen als allein, und so liegen Olive und Jack in den ersten Monaten ihrer Ehe Nacht für Nacht engumschlungen im Bett. „Olive streckte ihr Bein über seine beiden Beine, sie legte den Kopf an seine Brust, und irgendwann im Lauf der Nacht änderten sie zwar die Lage, aber sie ließen einander nicht los dabei, und Jack kamen ihre dicken alten Leiber immer vor wie zwei am Strand angespülte Schiffbrüchige, die sich verzweifelt aneinander festklammern.“ Gegen die Einsamkeit allerdings, gegen diese „klaffende Schwärze“, die tief in ihren Seelen nistet, kommen Olive und Jack auch zu zweit nicht an.
Das Gefühl, allein zu sein in einer Welt, in der sie umgehen wie unsichtbare Geister, beherrscht einen Großteil der Figuren in Elizabeth Strouts wunderbarem Episodenroman „Die langen Abende“. Kapitel um Kapitel – jedes für sich eine eigenständige kleine Geschichte – erzählt die amerikanische Autorin von einsamen Alten und verhuschten Jungen, von vernachlässigten Frauen, die ihren Kummer mit zu viel Weißwein wegspülen, und von einer Dichterin, die all das in ihren Werken verarbeitet.
Da ist Cindy Coombs, verheiratet mit einem Mann, der sie nicht versteht. Cindy ist an Krebs erkrankt und darf keine Brautjungfer sein, weil ihr alle Haare ausgefallen sind. Oder Ethel MacPhersons. Die zweifache Mutter wechselt seit Jahren kein Wort mit ihrem Mann, seitdem der sie in einem Moment voller Leichtsinn betrogen hat. Erst als Fergan einen Schlaganfall hat, findet das Paar wieder zueinander. Und da ist Kayley, ein vernachlässigtes vaterloses Mädchen. Kayley geht putzen und erfährt einige wenige Augenblicke der Nähe, wenn sie einem einsamen alten Mann ihre Brüste zeigt.
Elizabeth Strout, 1956 in Portland – ebenfalls in Maine – geboren, wurde 2007 mit ihrem Roman „Olive Kitteridge“ (dt. „Mit Blick aufs Meer“, 2010) bekannt. Sie bekam dafür den Pulitzerpreis. Seitdem lässt sie das Leben in Crosby nicht mehr los. Immer wieder findet sie in ihren Büchern zurück in die fiktive Kleinstadt – eine Chronistin des amerikanischen Alltags, die mit feiner Feder die kleinen und großen Dramen dessen abbildet, was man „das Leben“ nennt.
Mit „Die langen Abende“ (Originaltitel „Olive, again“) kehrt Elizabeth Strout zurück zu Olive Kitteridge, jener ruppigen alten Dame, mit der alles seinen Anfang nahm. Olives erster Mann Henry ist vor einigen Jahren gestorben. Die Trauer der Witwe hält sich in Grenzen. Nun lebt sie allein in einem Haus, das zu groß für sie ist. Und in das sie sich nach ihrer zweiten Heirat doch zurücksehnen soll. Ihr Sohn ist ihr fremd geblieben, auch zu den Enkeln findet sie keinen Kontakt. Zu schroff, zu kompromisslos in ihren Urteilen ist die ehemalige Lehrerin bisweilen.
Elizabeth Strout ist eine behutsame Erzählerin, die sich ihren Figuren mit Respekt und Zuneigung nähert. Sie schaut ihnen in die Herzen, und egal, was sie darin sieht: Sie findet die richtigen Worte, es zu beschreiben.
Petra Pluwatsch
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Wer nun dieses Werk (oder ein anderes) erwerben will, der ist beim lokalen Buchhändler bestens aufgehoben. Nicht vergessen – sehr viele Buchhändlerinnen und Buchhändler bieten ihre Titel online an und liefern frei Haus. Der deutsche Buchhandel ist einzigartig – das soll er auch bleiben.
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Elizabeth Strout: „Die langen Abende“, dt. von Sabine Roth, Luchterhand, 350 Seiten, 20 Euro. E-Book: 15,99 Euro.