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Foto: Bücheratlas
Die Lage ist ernst. Im Slum einer nordindischen Großstadt verschwindet ein Kind nach dem anderen. Erst Bahadur, „der Stotterer“, dann Omvir, der Sohn des Bügel-Wallahs, anschließend Aanchal, Chandni, Kabir, Khalid und schließlich Runu-Didi. Spurlos. Doch die Polizei mischt sich nicht ein. Da scheint Jai der einzige zu sein, der den Fall aufklären könnte. Zumindest sieht es der neunjährige Junge so. Immerhin hat er hunderte Folgen der Krimireihen „Police Patrol“ und „Live Crime“ studiert. Daher weiß er, wie man einen Täter überführt. Jedenfalls in der Theorie. Jai wird sicher bald schon der größte Detektiv aller Zeiten sein.
Deepa Anapparas Roman „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ kommt zunächst daher wie eine indische Variante von „Emil und die Detektive“ für Erwachsene. Allerdings stellt sich bald heraus, dass sich die Autorin und ehemalige Journalistin einer scheußlichen Aktualität widmet. Tatsächlich ist die Zahl der Kinder, die auf dem Subkontinent entführt werden, enorm; und die männlichen Übergriffe gegen junge Frauen, die zuweilen auch in den europäischen Nachrichten erwähnt werden, kommen ebenso zur Sprache. Diese Mischung aus funkelnder Phantasie und krimineller Realität gelingt der Autorin auf vortreffliche, ja, begeisternde Weise.
Anappara hat ihr Roman-Debüt auf drei Ebenen errichtet. Auf der einen sind wir jeweils kurz mit den Entführungsopfern unterwegs, unmittelbar bevor eine Hand nach ihnen greift, ein Licht sie blendet, ein chloroformierter Schal über sie fällt.
Auf einer zweiten Ebene werden Geschichten erzählt, die angeblich das Leben retten können. In einer Welt, in der die Armut kraftlos macht und die Polizei zwar korrupt, aber wenig einsatzfreudig ist, bleibt zuweilen nichts als Aberglaube. So können sich Straßenkinder in höchster Not an den ehemaligen Bandenführer namens Mantel wenden – und ihnen wird geholfen mit etwas Wärme oder Speise. Frauen, die von Männern belästigt werden, sollten die sogenannte Straßen-ki-Rani anrufen, die ihre Tochter durch vier Vergewaltiger verloren hatte: „Da fing sie an, sich an die Kreuzungen zu stellen und die Passanten zu verfluchen. Im Gesicht jedes Mannes sah sie das Gesicht des Mörders ihrer Tochter.“ Dann sind da noch die Tempel-Geister, die in eigener Sache Reklame machen: „Egal, was euch bedrückt, vertraue uns: Die Dschinns werden es vertreiben.“
Schließlich und vor allem aber sind wir mit dem so kindlichen wie gewitzten und rundum sympathischen Jai unterwegs. Als er den Fall übernimmt, der den Verlagsangaben zufolge auf einem wahren Verbrechen basiert, weiht er seine besten Freunde in die Ermittlungen ein. Blöd nur, dass der Muslim-Junge Faiz und das Hindu-Mädchen Pari nicht einsehen wollen, dass er der Chef ist. So laufen die beiden los, bevor er das Kommando gibt, oder sie stellen gute Fragen, auf die er selbst gerne gekommen wäre. Jai merkt: Detektiv zu sein ist gar nicht so einfach.

Vorne die „Haute Coiffure“, hinten der Slum – eine Szene aus Mumbay. Foto: Bücheratlas
Der Leser steht bald schon mittendrin in diesem kochenden Getümmel. Scheinbar körperlich spürbar sind der Lärm und die Hitze, der Gestank von der nahen Müllkippe und die eingeschränkte Sicht durch den allgegenwärtigen schwarzen Smog. Zumal die Schilderungen der Alltagsdetails, die uns so fremd sind, wecken Erinnerungen an Salman Rushdies „Mitternachtskinder“, dem Indien-Roman aller neuzeitlichen Indien-Romane. Aber auch Szenen aus Danny Boyles Multi-Oscar-Film „Slumdog Millionär“ beziehungsweise dem ihm zugrundliegenden Roman „Rupien! Rupien!“ von Vikas Swarup klingen an. Dass in die deutsche Übersetzung viele Original-Vokabeln integriert sind, die selbstverständlich in einem Glossar erklärt werden, gibt alledem eine schöne Würze: Von „Basti“ für ein Armenviertel bis zu „Bhoot“ für einen Geist.
Der Basti der Kinder-Detektive wird zu einer Bühne des Überlebens. Rund um den Bhoot-Basar spielt das individuelle Drama von Armut und Würde, hier gärt der nationalistische Konflikt zwischen Hindus und Moslems, hier errichten Gangs und Polizisten eine Ordnung eigenen Rechts, hier vibriert die soziale Unwucht zwischen den Slum-Bewohnern und den Reichen in den nahen Hochhäusern.
Dass daraus keine niederdrückende Erzählung geworden ist, sondern eine faszinierende und mit vielen komischen Szenen durchsetzte Kriminalgeschichte, liegt an dem Blickwinkel des Neunjährigen, für den sich Deepa Anappara entschieden hat. Jai macht das Schwere leichter lesbar. Da möchte man ihm zum Ende einen frisch gelernten Abschiedsgruß zurufen: Okay-tata-bye.
Martin Oehlen
Deepa Anappara: „Die Detektive vom Bhoot-Basar“, dt. von pociao und Roberto de Hollanda, Rowohlt, 400 Seiten, 24 Euro. E-Book: 19,99 Euro.